Viele Topoi im Alleingang!
Prima Facie ist momentan eines der meistgespielten Stücke. Suzie Miller, die vor ihrer Karriere als feministische Dramatikerin eine respektable Karriere als Menschenrechtsanwältin vorzuweisen hat, hat mit dem Text die Erfahrungen verschiedener Frauen mit Gewalt und dem Rechtssystem kondensiert - entstanden ist ein dichter, schwerer, intelligenter, aber anderseits in Teilen auch dozierender und in sich gefangener Text.
Die #MeToo-Bewegung hat deutlich gemacht, dass männliche Gewalt und suppressive Formen der Geschlechterkommunikation viele Formen hat. Die Bewegung hat zu einem relativ späten Zeitpunkt Frauen über Nischen wie Frauenrechtsbewegungen hinaus in den gesellschaftlichen Mittelpunkt gestellt - und irgendwie kommt dem einen oder anderen Suzie-Miller-Text, obgleich die gesellschaftliche Relevanz evident ist, eigentümlich durchs Jahrhundert gefallen vor, weil er viele, vielleicht zu viele Topoi bedient und irgendwie wie eine Milieustudie aus den 1960er Jahren wirkt: Die ihren Monolog haltende „Tessa Jane Ensler“ entstammt der britischen Arbeiterklasse. Bei der unter der Regie von András Dömötör stark aufspielenden Darstellerin Mercy Dorcas Otieno am Deutschen Theater handelt es sich zudem um eine farbige Frau.
Aus dem Arbeiterkind Tessa wird eine erfolgreiche Strafverteidigerin. Aus der Strafverteidigern wird ein Opfer, als sie einem sexuellen Übergriff eines Kollegen, mit dem sie eine Affäre hat, ausgeliefert ist.
Die Blickwinkel und Werturteile verschieben sich, weil Tessa normalerweise methodisch brillant männliche Sexualstraftäter verteidigt. Jeder hat ein Recht auf eine gute Verteidigung, meint Tessa, und so zerpflückt sie Zeuginnenaussagen, um Zweifel im Sinne ihrer Mandanten offenzulegen.
„Kann das System, an das Tessa so sehr geglaubt hat, sie schützen - oder lässt es sie am Ende im Stich?“, fragt das Deutsche Theater. Die Antwort scheint klar, auch ohne dass man Prima Facie gesehen hat.
Miller thematisiert in ihrem Text viele Fragestellungen und am Ende lassen sich diese nicht mehr ganz auseinanderhalten: Da hätten wir auf der einen Seite die Klassenfrage und individuellen Aufstiegschancen in einer Gesellschaft. Diese treten in der britischen Gesellschaft besonders deutlich anhand von Wohnort und Sprache zutage. Und so gilt Millers Text in der englischen Fassung auch als konziser und stimmiger, weil über Worte und Begriffe Distinktion, stärker als im Deutschen, klar gemacht wird.
Auf der anderen Seite haben wir das große Thema „sexualisierte Gewalt“. An der Figur der Tessa werden die Bruchlinien dieses Themas durch den juristischen Terminus „Prima Facie“, der im Deutschen dem „Augenschein“, also einem intuitiven Urteil, entspricht, deutlich. Gerade im Fall sexualisierter Gewalt stimmt dieser häufig nicht mit der Wahrheit überein.
Eines der ersten Stücke unter der neuen Deutschen-Theater-Intendantin Iris Laufenberg reiht sich in den aktuellen Zeitgeist ein, in dem die Problematisierung des Miteinanders zwischen den Geschlechtern positiven Utopien vorgezogen wird. Bei der Premierenparty scheinen sich Männer und Frauen dennoch prima zu verstehen und diskutieren eifrig über Millers dichtes Stück - und die Hauptdarstellerin Otieno wird aufgrund ihrer intensiven Auseinandersetzung mit der Psyche ihrer Figur gebührend gefeiert.