Übrigens …

Anthropolis I (Prolog/Dionysos) im Schauspielhaus Hamburg

Nah ist. Und schwer zu fassen der Gott. *

Ganz nah scheint die Geschichte von Theben und dem Gott Dionysos tatsächlich zu sein, wenn Michael Wittenborn in trister Alltags-Kleidung an den Bühnenrand tritt und uns „N’abend“ zuruft. „Moin“, antworten einige. (Ganz ehrlich, das hat mich überrascht.) Locker geht’s dann weiter: „Meine Damen und Herren, stellen Sie sich einmal vor dem inneren Auge vor“, bevor er richtig loslegen kann mit all dem, was wir uns vorstellen sollen, heißt es aus dem Saal: „Hammwirnich!“. Doch dann entwirft er ein Panorama aus Sonne, Strand und Meer um die Stadt Sidon, fügt allerdings wenig romantisch dem Bild Kraftwerke und Fabriken hinzu.

Es folgt die Geschichte von Europa, der Tochter des Königs Agenor, die von einem Stier, „groß, weiß und wunderschön“ entführt wird. Der Vater schickt seine drei Söhne aus, sie zu suchen. Einer von ihnen ist Kadmos, der nach jahrelanger vergeblicher Suche von Pythaia, dem Orakel von Delphi hört: „Gib auf!“ Sie rät ihm, eine Kuh vor sich her zu treiben, bis diese erschöpft zusammenbricht und an diesem Ort eine Stadt zu gründen. Dort trifft Kadmos auf einen Drachen, tötet ihn im Kampf, reißt ihm die Zähne aus und streut diese wie Samen aus. Daraus erwachsen Männer, die sich bis auf die fünf stärksten gegenseitig umbringen. Mit den Überlebenden gründet er die Stadt Theben. Das alles wird uns berichtet, bevor die starken Männer (dabei Lina Beckmann) kraftvoll die auf dem Bühnenboden ausgebreitete Erde zu schaufeln beginnen. Wir erfahren, dass Kohle, Gold und Silber gefunden wird, Werkzeuge und Waffen hergestellt werden, dass Brunnen, Straßen und Plätze entstehen. Musik und Buchstaben, Theater und Kino tauchen auf. Ein Ritt durch den Gründungsmythos der Zivilisation bis hin zu Aktienkursen, Wettbüros, Müll und Elektroschrott. Dann eine Spielszene: Kadmos heiratet Harmonia, Kinder mit Blumenkränzen sitzen mit an der festlichen Tafel. Zum Schluss noch einmal der Erzähler: Er berichtet von der Geburt des Dionysos aus dem Oberschenkel seines Göttervaters Zeus, nachdem seine Menschen-Mutter Semele durch einen Blitz getötet wurde.

Das war viel Stoff im Prolog. Das Publikum wird in die Pause geschickt und in einer urkomischen Ansage verspricht Lina Beckmann den Frauen in der Pause ein Glas Wein. Tatsächlich gibt’s an der Garderobe einen süßen Drink für jeden, der mag, auch für die Männer.

 

Dionysos - Ein Knall im Kopf

 

Nach der Pause gibt Lina Beckmann erst einmal eine totale Groteske auf der Vorderbühne. Im gold-glitzernden Anzug findet sie - so ganz nebenbei - alles bisher Gehörte „kranken Scheiß“ und beginnt mit einer absurden Weinprobe. Trinkt selbst auf Ex, verteilt plätschernd schwungvoll Gläser ans Publikum und wünscht allen den „Knall im Kopf“. Bietet den Nassgespritzten schon leicht lallend Reinigung vom Haus an.

Dann wird es ernst. Der zweite Teil bleibt ganz nahe an Euripides‘ Bakchen. Dionysos (in würdiger Menschengestalt gegeben von Carlo Ljubek) tritt auf und fasst im Monolog seine Geschichte zusammen. Er, der lärmende Gott des Rausches, fordert die Anerkennung seiner Göttlichkeit von seiner Geburtsstadt Theben, die deren Herrscher Pentheus - Vertreter der Vernunft und Rationalität - nicht gewähren will. Hoch zu Ross, in weißer Uniform auf dem Schimmel Sam, reitet Kristof Van Boven übertrieben selbstbewusst auf die Bühne, um dann doch sehr schnell vor der Verführung des unerkannten Dionysos einzuknicken. Wir erfahren: Der Gott ließ vorab aus Zorn alle Frauen der Stadt in einen Wahn verfallen und führte sie in den Berg Kithairon. Darunter auch die Mutter des Pentheus, die ihren Sohn im maßlosen Rausch mit den eigenen Händen zerfleischt, da sie in ihm einen Löwen sieht.

Großartig, wie Lina Beckmann - über die wir anfangs so herzhaft lachten - jetzt die Tragödin Agaue gibt: ihr langsames Zurückfinden aus dem Wahn, konfrontiert mit dem eigenen Verbrechen und Schmerz. Blutverschmiert im weißen Glitzerkleid verkörpert sie jetzt die Maßlosigkeit im Leid. Ergreifend dazu die Szene, wie Kadmos, der alte König, (eindrucksvoll: Ernst Stötzner) in schwarzen Plastikeimern die einzelnen Körperteile seines Enkels zusammenträgt und neben dem weißen Kuh-Kadaver abstellt, der am Bühnenrand liegt, und den ganzen Abend daran erinnert, dass dieses Tier vom Menschen einst zu Tode gehetzt wurde (Bühne: Johannes Schütz).Ein Hinweis auf den Kampf zwischen Natur und Kultur, zwischen Tier und Mensch, der älter ist als der Kampf zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Rausch und Vernunft - wobei der Rausch des Dionysios vom betäubenden Weinrausch bis zum gewalttätigen Blutrausch alles umfasst.

Grandios auf die Bühne gebracht wird das Rausch-Erleben ganz körperlich, nahezu gewaltsam durch das exzessive Getrommel der achtzehn Taiko Trommler*innen, die jede*r auf zwei Instrumenten schlagend eine Klangwucht auslösen, die tief unter die Haut geht. Acht Minuten währt diese Ekstase unter der Leitung von Jörg Gollasch.

Grandiose Künstler und die effektvolle Inszenierung von Karin Beier wurden mit jubelndem Applaus gefeiert.

Kurz und bündig

Der erste Teil des Antiken-Fünfteilers, an dem die Regisseurin Karin Beier fast zwei Jahre mit ihrem Team arbeitete, führt eindrucksvoll von den Gründungsmythen der Zivilisation ins Heute.

* Hölderlin, Patmos