Verhaftet in Konventionen
„Öd und leer liegt das Meer“ singt Kurwenal in Wagners Tristan. Davon kann in Benjamin Brittens Peter Grimes gar keine Rede sein. Hier ist das Meer ein tückischer Gegner, dessen Launen bei jedem Fischzug neu analysiert und überwunden werden wollen. Hart arbeitende Männer sind die Fischer in einem kleinen Dorf und sich der Gefahren ihres Berufs völlig bewusst. Eine verschworene Gemeinschaft sollte man meinen. Doch auch hier gibt es wie überall Klatsch, Tratsch und Gerüchte, die letztlich in eine Katastrophe münden. Und es gibt einen Außenseiter. Das ist eben jener Peter Grimes, der besessen ist vom Gedanken, durch das Fischen reich zu werden und seiner Angebeteten, der Lehrerin Ellen Orford ein standesgemäßes Leben zu bieten. Dafür ist er bereit, bis an die Grenzen zu gehen und schont weder sein Leben noch das seiner Lehrjungen. Die Außenseiter-Rolle kannte Komponist Benjamin Britten aufgrund seiner Homosexualität nur zu gut und zeigt in seiner Oper, wie sie letztendlich in den Untergang führen kann.
Auf der Bühne des Theaters Osnabrück sehen wir einen Abgrund, eine Klippe vielleicht. Es könnte auch der Längsschnitt eines Bootes sein. Oberhalb ist Platz um sich aufzureihen und zu singen. Und das tun in Jakob Peters-Messers Sicht auf Peter Grimes sowohl Chor und Solist:innen beständig gern und oft. Der Chor wird von Markus Meyer in uniforme Wetterkleidung und gelbe Gummistiefel gesteckt und wirkt allein dadurch wie eine bedrohliche Menge ohne jegliche Individualität. Das ermüdet die Augen auf die Dauer ganz enorm. Überhaupt passiert an diesem Abend, was Bewegung angeht, erstaunlich wenig. Fast meint man, sich in einer konzertanten Aufführung zu befinden. Auch in gefühlsmäßig aufgeladenen Szenen wie etwa in der Kneipe geht es zivilisiert, fast unterkühlt zu. Sollte das etwa ein augenzwinkernder Hinweis auf britischen Life-Style sein? Selbst der erzwungene Selbstmord am Ende zeugt eher von schlafwandlerischer Ausführung des Notwendigen denn von einer Tat in völliger Verzweiflung. Anfassend, berührend sind nur wenige Augenblicke, wie etwa das Quartett der Frauen, die die ihnen zugestandene rein passive Rolle beklagen. Beständig liegt ein Schleier der Schwermut über dem Abend, die jegliches aktives Handeln zu verhindern scheint. Wenn das gewollt sein sollte, ist es auf Dauer Gift für Aufmerksamkeit und Anteilnahme.
In Peter Grimes spielt ganz klar das Orchester die Hauptrolle. Nicht nur während der Handlung zeichnet Britten ganz feinfühlig einen Kosmos von Stimmungsbildern. Zwischen den Szenen erklingen die „Sea Interludes“, Zwischenspiele des Orchesters, die unglaublich farbenreich Meeresbilder heraufbeschwören - von der völligen Strandidylle bis zum aufbrausenden Sturm. Britten verstärkt und kommentiert hier die Handlung unglaublich raffiniert und subtil. Raffinesse und Subtilität ließ das Osnabrücker Symphonieorchester unter seinem Chef Andreas Hotz an einigen Stellen noch vermissen. Hier hätte man gern das ein oder andere I-Tüpfelchen mehr gehört. Aber die Grundstimmung von Peter Grimes trafen die Musiker:innen perfekt und meißelten sie in den Zuschauerraum.
Sierd Quarrés Chor ist stimmlich gut aufgelegt und meistert die Rolle der Masse, die verführt durch laute Vordenker sich zum reißenden Mob wandelt, perfekt. Und sorgt so für eine absolut tagespolitische Anspielung. Auch die kleineren Rollen sind wunderbar besetzt: Olga Privalova, die Wirtin, und die Prostituierten, die offiziell als Nichten firmieren (Jelena Bankovic und Susanna Edelmann) sorgen sich hauptsächlich und vehement um das Florieren des Geschäfts, Daniel Preis als Methodist posaunt seine Glaubensgrundsätze stentorhaft hinaus und zahlt dennoch für Liebesdienste. Er macht sich genauso zum Einpeitscher für die Jagd auf Peter Grimes, wie besonders durchdringend Mikolaj Bonkowski als Rechtsanwalt. Auch Anna Stepanets als Mrs. Sedley wirkt dabei mit - ebenso schrill wie intrigant und stets bemüht, ihr Suchtproblem zu verheimlichen. Jan Friedrich Eggers als Apotheker kennt die kleinen Geheimnisse seiner Mitmenschen und gründet darauf seine „Nebenverdienste“.
Peter Grimes hat nur zwei Freunde im Dorf, die sich letztlich machtlos gegen dessen Untergang stemmen: Kapitän Balstrode - von Rhys Jenkins sonor und sehr warmherzig gegeben - erkennt aber auch, wann es zu spät ist, sich zu wehren, wann der Kampf verloren ist. Ellen Orford liebt Grimes, wünscht sich eine gemeinsame Zukunft. Aber auch ihre Kräfte sind zu schwach gegen geballten Hass und einen Mann, der ihr immer mehr entgleitet. Susann Vent-Wunderlich verströmt warm und volltönend Hoffnung, Aufbegehren und Verzweiflung. James Edgar Knight singt nicht nur die Titelrolle, nein: Er ist an diesem Abend Peter Grimes. Umgeben von Hass, gleitet er immer mehr durch die völlige Fixierung auf seine Ziele in den Wahn ab. Knight beglaubigt diesen Prozess stimmlich nuancenreich und kraftvoll.
Das Osnabrücker Publikum feiert alle Beteiligten stürmisch. Auch das Regieteam kann sich in freundlichem Applaus sonnen.