Binär, non-binär oder eiskalter cis-Typ?
Tootsie - da klingeln bei älteren Menschen sicher gleich die Ohren. Das war doch dieser Film mit Dustin Hoffman aus den beginnenden 1980er Jahren. Aber klar: Er spielte einen arbeitslosen Schauspieler, der sich als Frau ausgab, um eine Rolle zu bekommen. Dabei hat er Erfolg und genießt diesen in vollen Zügen. Dann aber verliebt er sich in die Hauptdarstellerin und merkt: Es ist nicht einfach, ein Geschlechter-Hopping zu vollziehen. Denn das hat schmerzhafte Konsequenzen. Was ist echt, was Lüge? Was darf man tun, ohne andere Menschen tief zu verletzen? Wo liegen die Grenzen des Egoismus? Es ist unglaublich, wie aktuell die Themen nach über vierzig Jahren immer noch (oder wieder) sind, die dort verhandelt werden. Denn es geht um das Wandern zwischen den Geschlechtern, das Aufweichen scheinbar starrer Grenzen - binär oder vielleicht doch non binär? Es geht aber auch um Betroffenheit. Ist es erlaubt, als Mann weibliche Positionen zu äußern? Oder ist das verboten?
Auch David Yazbek stellt diese Fragen in seinem Musical und er stellt sie ganz charmant und unterhaltsam. Auch wenn das ganze Geschehen zunächst eher sehr langsam anrollt, gewinnt der Abend im Theater Osnabrück stetig an Fahrt. Und das illustriert Ansgar Weigner perfekt mit einer schier unglaublichen Bühnenshow. Er entzündet ein wahres Feuerwerk, hat stets alles im Blick, vernachlässigt auch im größten Gewusel auf der Bühne nie eine einzige Figur. Das allein ist fantastisch - aber Weigner versteht es auch, abseits der Massenszenen stille, nachdenkliche Augenblicke zu kreieren. Das Sahnehäubchen setzt aber Choreografin Andrea Danae Kingston auf die ohnehin schon üppige Torte. Was sie mit ihrem Ensemble schafft ist ebenso vielfältig wie überaus kreativ. Da entstehen aus fließenden Bewegungen Bilder, die dem Abend ihren Stempel aufdrücken. Das alles ist nicht dekorativ sondern sehr intensiv.
David Yazbeks Musik braucht einige Zeit, um wirklich zu zünden. Sein Einfallsreichtum wird besonders im zweiten Teil offenbar, der von funkelnden, sehr unterschiedlichen Melodien nur so strotzt. Dennoch muss etwas Wasser in den Wein der totalen Glückseligkeit gegossen werden: Die deutschen Songtexte sind - mit Verlaub - nur schwer auszuhalten. Da werden vermeintlich tiefsinnige, bedeutungsvolle Botschaften vermittelt, die aber in Wirklichkeit äußerst hohl und banal daher kommen. Das ist dann doch eher etwas peinlich. Vielleicht wäre da doch ein Griff auf die englischen Originale passender.
Tootsie ist im Theater Osnabrück ein Paradebeispiel für die perfekte, harmonische Zusammenarbeit eines großen Ensembles. Heraus kommt dabei ein herrlicher Wohlfühlabend. Alle auf der Bühne haben sichtlich Spaß und ein Zahnrad greift gut geölt ins andere. Das gilt für das Musical-Ensemble ebenso wie für den Opernchor und die Darsteller*innen der kleineren Rollen.
Jannik Harneit in der Titelrolle meistert den Geschlechtertausch ohne Klamauk und sehr würdevoll. Genauso sensibel geht er auch seine Songs an. Julia Lißel ist eine stimmgewaltige und mit großer Bühnenpräsenz ausgestattete Julie. Susanna Edelmann als Sandy tobt sich so richtig aus in der Hysterie des Scheiterns bis sie in Jeff endlich den richtigen Mann findet. Denn gibt Jan Friedrich Eggers ironisch bis sarkastisch. Dabei ist er sich seiner eigenen Unzulänglichkeit als erfolgloser Schriftsteller immer bewusst - ein Extralob für Eggers. Mark Hamman schließlich liefert als Ron Carlisle eine perfekte eklige Harvey-Weinstein-Parodie ab. Herrlich!
An-Hoon Song führt das Osnabrücker Symphonieorchester und die Extra-Band ganz sicher und konzentriert durch den tosenden Abend. Er schafft kleine Ruhemomente und behält auch in den aufwallendsten Augenblicken immer die Übersicht.
Tootsie jedenfalls ist sicher ein Stück, das einen Platz im Musical-Repertoire verdient hat. Das findet auch das Publikum, das - gemessen am niedersächsischen Temperament - geradezu überschäumend applaudiert.