Der Aufstand der Nebenfiguren
Bei ihrem Erscheinen auf den Theaterbühnen dieser Welt war Ibsens „Nora“ so etwas wie eine feministische Provokateurin. Eine Frau, die aus der Enge der patriarchalischen Gesellschaft ausbricht und nicht nur ihren Gatten, sondern sogar ihre Kinder verlässt - das löste im Jahre 1879 noch Skandale aus. Sowohl bei der Kopenhagener Uraufführung als auch bei der Hamburger Deutschen Erstaufführung wurde der Schluss geändert. Nora riss nicht aus, sondern blieb in der Familie - der Kinder wegen. Veränderte Schlussszenen haben wir seitdem reichlich erlebt - radikalere in aller Regel. In Thomas Ostermeiers Inszenierung an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin, einer der stärksten Interpretationen, die der Schreiber dieser Zeilen je sah, beförderte Anne Tismers Nora 2002 ihren Torvald mit einem gezielten Schuss ins Herz als Leiche ins Aquarium. Den Blagen nützte das allerdings auch nicht viel. Blitzschnell flohen die das Puppenheim - an der Hand ihrer Nanny, von der noch die Rede sein wird. Die Family war so oder so kaputt. Nora saß einsam und verloren neben dem kaputten Fischbecken, und wenn alles mit rechten Dingen zuging, dürfte sie bald im Knast gelandet sein.
Sivan Ben Yishai hätte Nora dafür keineswegs bedauert. Die Frau Helmer ist ihr nämlich herzlich unsympathisch: als Vertreterin der herrschenden Klasse, als Chefin eines respektablen Aufgebots an Angestellten, die nichts zu sagen haben und schlecht bezahlt werden - und somit als Profiteurin des kapitalistisch-patriarchalischen Systems. Noras feministischer Kampf ist für Ben Yishai ein falscher Fuffziger: Sie verkörpert für die Autorin den verhassten „weißen Feminismus“, den Kampf für Frauenrechte innerhalb des bestehenden politischen Systems. So ganz blöd ist der Gedanke nicht: Erinnern wir uns, wie furchtbar verwöhnt und naiv uns Torvalds Zwitscherlerche am Anfang mancher Inszenierung vorkam, wenn sie, bepackt mit Tüten, Taschen und Kisten voller Weihnachtsgeschenke, aus den glamourösen Shopping Malls kam, um mal plappernd und naiv, mal dekadent und gelangweilt im eigenen Luxus zu ersticken. Konsequenterweise hat Ben Yishai nunmehr also eine radikale Umschreibung von Ibsens Drama vorgenommen - vom „Deaktivieren“ der bestehenden Version der Geschichte spricht sie in ihrem Text. Das geschieht mit einigen Verlusten, einigen Ungenauigkeiten - und mancher Neuentdeckung im Personal.
Aus Ibsens Puppenheim ist ein Herrenhaus geworden. Birte Leest als Nora ist in der Inszenierung am Schauspiel Hannover die Herrin von gleich sieben Hausangestellten - „meine Arbeiter“, sagt sie einmal und sitzt schon in der Klassismus-Falle. Neben Nora, Torvald und den Bediensteten wohnt auch Ex-Freundin Christine im Haus, die all ihren ausbeuterischen toten Patriarchen-Männern zügige rückstandslose Verwesung wünscht. Mit der etwas schüchternen Christine Linde der Ibsen-Nora hat Ben Yishais Figur nicht viel zu tun, sieht man davon ab, dass angeblich beide „verarmt“ sind. Die neue Christine ist eine Art Alter Ego der Autorin und ruft schon bald zum Sturz des Systems auf. Mit Florence Adjidome ist die Figur in Hannover durch eine Person of Colour besetzt. Ohne dass dies besonders in den Vordergrund gespielt wird, erhält Ben Yishais Kritik an Klassismus und Patriarchat dadurch unterschwellig auch noch eine antirassistische Komponente. Ansonsten stellt das Stück vor allem die Nebenfiguren aus Ibsens Drama in den Vordergrund, wobei in der Inszenierung von Marie Bues vor allem das 70jährige Kinder-„Mädchen“ (!) Anne-Marie (Irene Kugler) und der Paketbote, der bei Ibsen die Weihnachtspakete anschleppt und in modernen Inszenierungen meist gestrichen wird, auffällig werden. Wieso Letzterer bei den Helmers im Herrenhaus wohnt, erklärt die Autorin nicht - da ist ihr in den nach Angabe der Dramaturgin Nora Khuon sage und schreibe 87 Textfassungen, die Ben Yishai an das Schauspiel Hannover geschickt hat, entweder nichts Überzeugendes eingefallen oder die Hannoveraner Spielfassung hat das Argument dafür geschluckt.
Aber das ist nebensächlich, zumal besagter Paketbote von Torben Kessler tatsächlich brillant gespielt wird: Kessler balanciert überzeugend auf dem Grat zwischen dem von Ben Yishai vorgesehenen Protest-Träger und einem sachlichen, seine möglicherweise vorhandene Wut in vernünftige Argumente kanalisierenden Arbeiterführer. Er protestiert angeblich monatelang vor dem Haus, um wenigstens zu verhindern, dass seine Rolle komplett gestrichen wird und er in die Arbeitslosigkeit fällt. Da es in Ben Yishais Welt keine Rangunterschiede mehr geben darf, gelten ihr die Nebenfiguren als doppelt diskriminiert: erstens, weil sie eine Chefin, aber keine Biografie haben, und zweitens, weil sie auf der Bühne nichts zu sagen und im Kühlschrank mutmaßlich nichts zu essen haben. Die fehlende Biografie und der wenige Text haben bei Ibsen natürlich die gleiche Ursache: Wenn jemand den ganzen Abend über nur vier Worte sprechen darf, nämlich zweimal „50 Öre“ für die Paketlieferung fordern, dann ist es schwer, ihn eine differenzierte, tiefschürfende Persönlichkeit mitzugeben.
Aber, so argumentiert Ben Yishai implizit, da hätte Ibsen ja auch an die armen Schauspieler denken müssen, die sich für vier Worte den ganzen Abend im Theater um die Ohren hauen, bis zum Schlussapplaus hinter der Bühne ausharren und als Vergütung für den kurzen Auftritt mutmaßlich auch nicht viel mehr als 50 Öre kassieren. Die Ausbeutung des Schauspieler-Prekariats ist also die zweite Denkebene in Ben Yishais Text. Mit ihr hat auch Nora eine zweite Funktion: als kapitalistische Unternehmerin in eigener Theatersache. Irgendwie hat das was mit Umverteilung zu tun: Je mehr Hausmädchen Helene, Kindermädchen Anne-Marie, der namenlose Koch oder der, wie es ironisch heißt, Paketbote mit dem Familiennamen „Paketbote“ zu sagen haben, desto weniger Bühnenpräsenz bleibt für die Hauptfiguren der herrschenden Klasse - und Bühnenpräsenz setzt Ben Yishai mit der entsprechenden finanziellen Entlohnung gleich.
Die Autorin findet in ihrem aktivistischen Stück zahlreiche Anknüpfungspunkte an die kapitalistische Arbeitswelt. Ihre Anspielungen sind nicht ohne Witz. Manchen ihrer Kritikpunkte mag man nicht folgen, weil hinter ihnen die Sehnsucht nach unrealistischen Utopien steht, andere überraschen, weil sie so offensichtlich und doch bislang unerkannt sind: Wenn es 1879 ein Skandal war, dass Nora ihre Kinder verließ - warum hat dann niemand darüber gedacht, dass auch das Kindermädchen seine Familie inkl. eigener Kinder verlassen musste, um Noras Blagen großzuziehen? In solchen Momenten wird man nachdenklich. Insgesamt aber mäandert das Stück eine Stunde lang mit sprödem, wenig subtilem Humor dahin, bevor endlich der Aufstand der Proletarier beginnt und die Aufführung sprachlich und formal an Qualität gewinnt. Ben Yishai stellt hier jedes Inszenierung-Team vor große Herausforderungen: Es gibt keinen Text mehr, nur Zahlen und Fußnoten. Marie Bues und ihr Team bewältigen diese Herausforderung kraftvollen, wuchtigen kollektiven Auftritten und großer Kreativität. Man spürt, wie die Achtung (und vielleicht gar die Angst) der Angestellten vor der Macht des Patriarchats endgültig weicht.
„Ihr habt jetzt eine gefunden, die ihr canceln könnt“, sagt Nora zu ihren Aufständischen. Tatsächlich hat man den Eindruck, dass Sivan Ben Yishai Nora am liebsten canceln würde, obwohl sie ihr zugesteht, dass auch sie im Patriarchat neben dem schluffigen Torvald nur eine untergeordnete Rolle spielt. Ben Yishai will das Herrenhaus vernichten - aber nicht, indem sie es verbrennt, sondern indem sie es kompostiert. Wiederverwertbar in nachhaltigerer Form soll es werden; aus dem Kompost soll Neues entstehen. Das Haus, das Bühnenbildnerin Katja Hass gebaut hat, wird abgebaut, und statt der festen Struktur entsteht fluider Tanz. Die festen, binären Charaktere verwandeln sich in fluide Wesen, klassenneutral, genderneutral, in neuen Körpern, den Vätern und Vorvätern entsagend, alle alten Versionen der Geschichte deinstallierend. Die kapitalistische, patriarchalische Welt einschließlich ihrer reichen Historie wird der rückstandslosen Auslöschung und dem vollständigen Vergessen überantwortet. Man mag darüber den Kopf schütteln oder es als wünschenswerte Utopie interpretieren. Aber bedenket das Ende: Der letzte Satz lautet: „Und die Maden kamen.“