Wenn Frauen Männerseelen retten
Das Aufeinandertreffen birst vor Spannung. Die namenlose Frau in Peter Eötvös' Zweipersonenoper Ohne Blut konfrontiert den ebenso anonymen Mann mit der Mordtat von einst. In Kriegszeiten zählte er zu einem Trupp aus drei Soldaten, der Vater und Bruder der Frau abschlachtete. Sie – damals ein junges Mädchen – war die einzige Überlebende. Der Vater hatte sie unter einer Falltür verborgen, der Soldat sie entdeckt, doch verschont. Die Erwachsene fahndet nach ihm. In Tötungsabsicht. Die beiden anderen Mörder kamen bereits auf ungeklärte Weise ums Leben. Doch der Verbrecher und zugleich Lebensretter zeigt sich auf die Begegnung vorbereitet. Wie das Mädchen unter der Falltür hervorblickte und ihn ansah, prägte ihn fürs Leben. Die Frau gewährt ihm Gehör. Beide tauschen sich über die Mordtat von einst und ihre weiteren Lebensgeschichten aus. Die Frau lässt ihren Tötungsvorsatz fallen und die Pistole sinken. Sie lädt den Mann ein, die Nacht mit ihr im Hotel zu verbringen. Packend schildert Regisseur Ulrich Mokrusch, wie sich die Frau dazu durchringt, den Racheplan aufzugeben; sie begreift die Sinnlosigkeit des Unterfangens. Zumal ihr Blick, der vor Zeiten den Mörder ihres Vaters und Bruders traf, ihn dazu bestimmt, weder um sein Leben zu kämpfen, noch darum zu betteln. So setzt er denn dem, was immer sie ihm zugedacht hat, nichts entgegen als die leidenschaftliche Erinnerung an die erste Begegnung und die nüchterne Betrachtung der gegenwärtigen Lage. Das 45minütige Werk des im letzten Jahr verstorbenen Peter Eötvös wurde 2015 konzertant in der Kölner Philharmonie uraufgeführt und ging bald darauf beim Festival in Avignon auch szenisch über die Bühne. Des Komponisten Frau, Mari Mezei, schrieb ihm dazu auf Basis eines Romans von Alessandro Baricco das Libretto.
Eötvös verstand Ohne Blut als Komplementärstück zu Bartóks Herzog Blaubarts Burg. Beide Opern kreisen um einen Mann, der einer Frau allmählich sein Innerstes öffnet. Kompositorisch nimmt sich Eötvös für seine Verhältnisse streng zurück. Aus solcher Reduktion bauen sich die energetischen Felder einer glühenden und leidenschaftsgetränkten Askese auf. Herzog Blaubarts Burg setzt demgegenüber leichte Patina an. Das Initialwerk der neueren ungarischen Operngeschichte schreibt sich deutlich aus einer Zeit her, in der die Tiefenpsychologie in jede Note zu diffundieren sann. Die Spielleitung begegnet dem mit Stilisierung. Während Dichtung und Musik in einer Synthese aus hochpoetischer Sprache und Erinnerungen an impressionistische Kompositionen samt Anspielungen auf magyarische Folklore den Verästelungen der Seele nachspüren, weist Ulrich Mokrusch dem finsteren Herzog und der seine Geheimnisse ergründenden Judith wechselnde Standorte zu, von denen aus klar wird, wer jeweils das Spiel bestimmt, Blaubart oder die mutig seine Burg ergründende Frau. Okarina Peters und Timo Dentlers hoch, steil und grandios in voller Portalbreite aufragende Bühne arbeitet dem zu: auf den ersten Blick ein Mittelding zwischen Zuschauertribüne und Treppe, ein zwar manche Arbeitsstunde verschlingendes, aber von Gestalt eher schlichtes Produkt der Theaterschlosserei. Bei näherem Hinsehen aber eines mit für beide Musiktheaterwerke perfekter Höhe und die dramatischen Geschehen unterstreichendem Neigungswinkel. Dass sich die Tribüne für Eötvos' zunächst von hinten zeigt, um ein unter ihren Stufen etabliertes Café aufzunehmen, später - um 180 Grad gedreht – für Blaubarts Burg die Vorderansicht, verbindet beide Werke wie selbstverständlich.
Als hochkarätig wie die szenische erweist sich auch die musikalische Seite des Osnabrücker Doppelabends. Andreas Hotz bewegt sich mit dem im Bühnenhintergrund platzierten Osnabrücker Symphonieorchester gleichermaßen sensibel und im dramatischen Zugriff durch die so unterschiedlichen Klangsprachen der beiden Werke. Jan Friedrich Eggers verleiht dem Mann in Eötvös' Zweipersonenstück baritonal ebenso soldatische wie mitfühlende Statur, den Blaubart gibt er rollendeckend. Susann Vent-Wunderlich macht die Frauenrollen beider Opern zum Ereignis. Da ist jede Phrase von jugendlich-dramatischem Impetus erfüllt. Raumgreifend strahlen die Spitzentöne bis in des Auditoriums letzten Winkel.