Übrigens …

La Traviata im Theater Brandenburg

Zugrunde gerichtet

Omnipräsent beobachtet der Chor das Geschehen von amphitheatralisch ansteigenden Stufen herab, um ab und an selbst in die Vorgänge einzugreifen. Es braucht kein weiteres visuelles Zitat, um die antike Tragödie heraufzubeschwören. Violetta stemmt sich gegen das von Krankheit und Gesellschaft oder vielmehr einer kranken Gesellschaft über sie verhängte Schicksal. Ihre „Schuld“, oder wie der Begriff der „hamartia“ heute eher übersetzt wird, ihr „Fehler“ besteht im Verlangen nach einer Liebe jenseits der Sexarbeit als Nobelprostituierte. Kein Zweifel, Hausherr und Regisseur sowie - in weiterer Personalunion - Bühnenbildner Alexander Busche hat seinen Aristoteles drauf. Und weiß ebenso, dass der Edelkurtisane dies als „hybris“ nur unterstellen kann, wer sie in ihren als gesellschaftlich erforderten, doch verachteten Berufsstand einzupferchen sucht. Vater Germont tritt in Gestalt dessen auf, was über Violetta verhängt ist, Verzicht auf empfindsame Liebe und bürgerliche Existenz. Seine schlussendliche Reue am Sterbelager der von ihm und Alfredos Feigheit Zugrundegerichteten geht weit eher aus Verdis autobiografisch begründetem Wunschdenken als tatsächlichen Verhaltensmustern der Patriarchen vom Schlag Giorgio Germonts hervor. Der Komponist hoffte Nachsicht für seine zunächst unehelich mit ihm zusammenlebende spätere Ehefrau Giuseppina Strepponi zu finden. Busche decouvriert die vornehme Attitüde des reichen Mannes aus der Provinz. Es geht um's Geschäft. Verwandtschaft wie Violetta würde die Optionen der eigenen Tochter auf eine gute Partie gen null herabdrücken. Busche straft die sonst übliche Grandezza des Patriarchen Lügen, indem er ihn bisweilen hektisch über die Bühne wieseln lässt. Indessen fokussiert sich Busche ansonsten auf ein Podium inmitten der seitlich und nach hinten schwarz abgehängten Spielfläche. Wenige darauf platzierte Requisiten deuten den jeweiligen Schauplatz an. Solche Reduktion macht Effekt, nur die je nach den auf der Bühne vorherrschenden Affekten aufflackernden Leuchtschriften mit den Signalwörtern „Hoffnung“, „Liebe“, „Zerstörung“ schießen über das Ziel hinaus. Erläuterungen wie diese braucht kein Mensch, die szenischen Vorgänge müssen für sich sprechen. Und sie machen's ja auch. Bei aller sonstigen optischen Zurückhaltung herrscht kostümliche Opulenz. Gabriele Kortmann kleidet die Damen in Roben und steckt die Herren in Anzüge und Gehröcke mit oft deutlichen modischen Anleihen bei modischen Trends aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Musikalisch lässt sich die Brandenburger Traviata hochbeachtlich vernehmen. Karsten Drewing motiviert den Extrachor Brandenburg e. V. (sic!) zu dramatischer Verve und Präzision. Ein vokal mit vergleichbarer Professionalität agierendes Laienensemble findet sich in Deutschland höchstens noch im inzwischen auch in Opernproduktionen eingesetzten Chor der Oberammergauer Passionsspiele. Unter Andreas Spering tönen die Brandenburger Symphoniker oft schmerzlich-elegisch, doch wissen sie ebenso für packende Aktschlüsse zu sorgen. Während letzterer beweist die grandiose Pauke ihre Sonderklasse. Natalia Baldus ist eine koloraturfertige, erwogen phrasierende und spielerisch für sich einnehmende Violetta. Mit viel tenoraler Attacke gibt Sotiris Charalampous einen forschen Alfredo. Über den für Verdi-Partien gebotenen hohen Bariton verfügt Frederik Baldus. Unbedingt aufhorchen lässt die Flora von Rosamond Thomas.

Die Publikumsbegeisterung entlädt sich in tosendem Applaus, orkanartigen Bravi und Fußtrampeln.

P.S. Am Brandenburger Theater unterscheidet sich vieles von anderen deutschen Bühnen. Das Haus blickte 2017 auf sein zweihundertjähriges Bestehen zurück. Am Tag nach der letzten Vorstellung des komplett entlassenen Ensembles fand im Juni 1999 das Richtfest für das neu errichtete Kultur- und Kongresszentrum statt, in dem seither auch das Theater beheimatet ist. Die Solistinnen und Solisten erhalten Stückverträge. Die Chorpartien werden vom einstigen, nun als e.V. formierten Extrachor des Hauses übernommen. 2021 wurde der gebürtige Detmolder Alexander Busche mit der Intendanz betraut. Busche ersetzte den Repertoirebetrieb durch ein Blocksystem, innerhalb dessen sich etwa La Traviata ausgezeichnet verkaufte. Für das Sprechtheater greift das Haus neben völligen Eigen- auch auf die Koproduktion mit freien Ensembles zurück, in dieser Spielzeit für Shakespeares Sommernachtstraum (Ende Mai/Anfang Juni 2025). Aus dem Graben werden die Brandenburger Symphoniker - sonst Rückgrat des Musiktheaters - Mendelssohn Bartholdys Schauspielmusik steigen lassen.