Vom anderen Stern
Final zündet der Raketenantrieb und das Raumschiff hebt ab, um Alien Thomas Jerome Newton zurück auf seinen fernen Heimatplaneten zu bringen. Ob er ihn noch rettten kann, bleibt offen. Mag sein, Newton ließ sich allzu lange vom Geheimdienst auf Erden festsetzen, blieb aber auch selbst dort kleben, weil er von der geliebten Mary Lou nicht los kam. Dass er nun gerade die Erde wählte, um seine von Umweltkatastrophen bedrohte Welt zu retten, befremdet zunächst. Macht aber letztlich wenig. Denn sobald die Kröte geschluckt ist, funktioniert das Stück prächtig. Bowie und Walsh greifen für ihr Musical auf Walter Tevis' zu Anfang der 1960er Jahre erschienenen Roman The Man Who Fell To Earth zurück, in dessen Verfilmung Bowie 1976 selbst die Rolle des Außerirdischen verkörperte. Walsh gelang ein Libretto voll poetischer Kraft und sprachlicher Schönheit. Newtons Dialogen mit einem im Stück „Mädchen“ genannten, feengleichen Wesen eignet Magisches. Oft Schwerelos-schwebend, doch ab und an erstaunlich bodenständig und bei Kräften berührt die junge Frau durch eine Naivität im beinahe Schillerschen Sinn; sie ist kein Dummerchen, sondern – ganz im Gegenteil – eine Synthese aus Unschuld, Klugheit und Anmut. Selbst der einem Bowie-Song entsprungene todestrunkene Valentine ist eine ganz und gar lyrische Gestalt. Jedenfalls, bevor er das Messer zückt, um seine Opfer hinzuraffen. Klar, das Musical versammelt neben unbekannteren Songs Welthits wie eben „Heroes“ oder „Life on Mars“, doch steuerte Bowie ferner vier eigens für das 2015 am Off-Broadway aus der Taufe gehobene Werk bei. Lazarus ist eben keine durch eine dürre Handlung verknüpfte Best of-Konfektionsware, vielmehr spiegelt sich darin Bowies kontinuierliche Beschäftigung mit extrarerrestrischen Themen ebenso wie mit Leben und Tod.
Dass Bowie selbst immer wieder wie nicht wie von der Erde schien, beflügelt Regisseur Bernd Mottl dazu, den Außerirdischen in äußerer Erscheinung und Habitus mit dem Rock- und Popstar zu verquicken. Alien Thomas Jerome Newton sucht sich durch exzessiven Ginkonsum über seine Unentschiedenheit hinwegzutrösten. Oft hängt er in einem Komfort-Ruhesessel ab. Bei näherem Hinsehen erweckt das Möbel den Verdacht, für die Kommandobrücke eines Raumschiffs zu taugen. Von seiner in ihm die Alternative zum Kleinbürgerdasein erblickenden Haushälterin zeigt er sich gründlich genervt. Den todestrunkenen Einflüsterungen des als Borderliner gezeichneten Valentine gewinnt er letztlich nichts ab. Findet sich mit dem „Mädchen“ eine echte Dialogpartnerin, so sucht ihm sein Umfeld zu suggerieren und bisweilen er selbst sich einzureden, sie sei eine Projektion aus seinem Innersten. Mottl lässt im Raum stehen, welcher Realität – der inneren oder äußeren - das „Mädchen“ angehört. Eine Antwort darauf wäre ohne Belang oder würde gar an der Poesie des Werks kratzen. Alles dies situiert Friedrich Eggert in einem spacigen Appartement, das für eine Laune des in Science-Fiction vernarrten Bewohners halten darf, wer nicht dessen außerirdische Herkunft kennt. Das Raumschiff ist startbereit, nur eben lange Zeit hindurch sein Astronaut nicht. Zwischendurch ist immer wieder einmal retrospektive Party. Das klinische Weiß des Sternenkreuzers wechselt dann in poppige Farben. Eggert steckt die Personnage in Mode aus den Jahren von Bowies diversen Schaffensphasen. Immer wieder zeigen sich dessen Bühnenkostüme zitiert. Rasant und nimmermüde augenzwinkernd serviert Hakan T. Aslans Choreografie Pop und Science- Fiction als zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Erst recht punktet der Potsdamer Lazarus musikalisch. Vom Keyboard aus befeuert Matthias Binner Band und Sprechtheater-Ensemble dazu, den Saal zu rocken. Obschon forte und forte fortissimo dominieren, werden Chancen zu instrumentaler und stimmlicher Nuancierung ergriffen. Philipp Mauritz hüllt seinen Thomas Jerome Newton in namenlose Einsamkeit. Auf Erden ist ihm nicht zu helfen, ob nach der Rückkehr auf seinen Heimatplaneten, steht dahin. Grazil weht Mascha Schneiders Mädchen über die Bühne, um sich wiederholt zum Sausewind auszuwachsen. Jan Hallmann ist der nach Zärtlichkeit und Zuwendung suchende, doch Tod bringende Valentine. Mauritz, Schneider und Hallmann sind ausgezeichnet singende Schauspieler. Das gilt cum grano salis auch fürs übrige Ensemble. Erfrischend, wie die Figuren sanglich weit entfernt vom kommerziellen Musical-Einheitsbrei beglaubigt werden.