Bizarre Revue mit sensiblem Unterton
Wie autonom ist der Mensch, wenn die Systeme, in denen sich der Mensch bewegt, um die Deutungshoheit kämpfen?
In dem exzentrischen Stück Halts Maul, Kassandra! wird diese Frage auf vielfältige Art und Weise reflektiert, und zwar anhand der Person und Biografie des Schriftstellers und Regisseurs Thomas Brasch. Der charismatisch Brasch, vielseitig künstlerisch begabt, wechselt 1976 zusammen mit seiner damaligen Freundin Katharina Thalbach von der damaligen DDR in den Westen.
Bereits Braschs' Eltern waren Getriebene der gesellschaftlichen Umstände: Brasch wurde als Sohn jüdischer Emigranten 1945 im englischen Exil geboren - nach dem Krieg siedelte die Familie in die sowjetische Besatzungszone über. Braschs Vater begann dort politisch zu reüssieren.
Ein Leben in ständiger Zerrissenheit, Intellektualität als Richtschnur und Konstante für eigenes Handeln. Die Regisseure Tom Kühnel und Jürgen Kuttner zimmern daraus eine ausdrucksstarke, ästhetisch attraktive und lediglich gegen Ende etwas ins Klamaukige abdriftende Revue, in der auf hintergründige Art und Weise eine gesellschaftliche Stimmung beschrieben wird, in der das künstlerische Milieu, in dem sich Brasch bewegt, eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt.
Schlüsselszene und wahrscheinlich auch stärkste Szene ist die Preisverleihung zum Bayerischen Filmpreis: 1981 bekommt der einstige DDR-Dichter Brasch in München den Filmpreis für sein West-Filmdebüt "Engel aus Eisen" überreicht. Groß projiziert und stark in Szene gesetzt werden die historischen Filmaufnahmen am Deutschen Theater dem Publikum präsentiert - Brasch, von seiner linken Community kritisiert, nimmt den Preis dennoch entgegen. Der Preis wird offenbar stark mit dem umstrittenen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß assoziiert.
Richtig witzig, wie die Regisseure die Szene ironisieren, indem sie die geifernden - vielleicht neidischen - Brasch-Kolleg*innen als Muppet-Show-Opa-Pärchen stereotypisieren - diese dürfen vom ersten Rang hinunter die historische Videoprojektion kommentieren.
50.000 D-Mark gab es damals. Ziemlich viel Geld. Vielleicht als Nagelprobe von Strauß selbst inszeniert, um zu sehen, wie weit er bei Künstler Brasch gehen kann?
In seiner Rede dankt Brasch der DDR-Filmhochschule, an der er sein Handwerkszeug gelernt hat. Eine Art Tabubruch, denn die alte Bundesrepublik war den Systemflüchtlingen wohl gesonnen, allerdings nur so lange, wie diese ihre Rolle als Kritiker*innen der DDR brav erfüllten. Zwischentöne oder Schattierungen in der Kommunikation waren nicht erwünscht.
Dabei will theater:pur nicht verschweigen, dass Brasch innerhalb der DDR unter seinem linientreuen Vater zu leiden hatte und Mitte der 60er Jahre, als er an der Karl-Marx-Universität Leipzig Journalismus studierte, wegen „Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR“ exmatrikuliert wurde - danach arbeitete er unter anderem als Kellner und Straßenbauarbeiter.
Bizarre Bilder werden am Deutschen Theater kreiert, die textlich, optisch und sprachlich stark unterlegt werden. Ein Leben, das eigentlich für mehrere Inszenierungen reichen würde. Doch am Deutschen Theater überzeugt vorerst diese szenisch dichte Auseinandersetzung des Duos Kühnel / Kuttner.