Mailand liegt an der Maas
Bekannt für ihr oft exzellentes Casting, wartet die Königlich Wallonische Oper für den Repertoireschlager mit einer Besetzung der beiden Zentralpartien auf, die es in sich hat. Dieses Mal frappant im Positiven wie im Bedenklichen. Deshalb muss zunächst vom Sängerischen die Rede sein. Und da braucht es eine Weile, bis Arturo Chacón-Cruz in der Titelrolle sich mit dem angesichts seiner Auftritte an der New Yorker Met und Mailänder Scala für seine Maßstäbe bescheidenen, da lediglich 1000 Plätze fassenden Auditorium im Opernhaus der Maasmetropole akustisch anfreunden kann. Sein Tenor stößt zunächst überdimensioniert ins Publikum vor. Doch passt er sich den Liégoiser Dimensionen an, um durchschlagskräftig in den letzten Winkel zu dringen, ohne des Saales Wände sprengen zu wollen. Doch kein Zweifel, Chacón-Cruz gehört eigentlich ins italienische Spintofach, also in das Spektrum zwischen lyrischem und Heldentenor. Wirklich verschafft sich denn auch eine Partie wie Verdis Trovatore-Manrico vernehmlich Geltung. Macht aber wenig. Chacón-Cruz gestaltet Werther voller Energie, Emphase und Höhensicherheit. Jede Phrase ist dramatisch durchpulst. Sicher, die für die opéra comique zu erwartende vokale Delikatesse und Flexibilität geraten dabei ebenso ins Hintertreffen wie das Massenets Figuren charakterisierende Sentiment. Freilich hätte die Gefahr schon durch die vokale Interaktion mit der für Charlotte ihren riesenhaften Mezzosopran aufbietenden Clémentine Margaine nahegelegen. Auch die Carmen weltweit führender Häuser, zudem Dalila und nicht zuletzt Azucena muss sich erst einmal auf den für ihre Verhältnisse kleinen Saal einpendeln. Das gelingt ihr, obschon vernehmbar bleibt, wie die kernhafte und bestens fokussierte Stimme weit über den zur Verfügung stehenden Raum hinausstrebt. Aus ihrer Partie holt Margaine an Leidenschaftlichkeit heraus, was nur immer darin steckt. Noch in heftiger Wallung aber singt sie ganz wunderbar auf dem Atem. Doch bleibt die wesentlich lyrische Seite ihrer Figur nahezu unbeleuchtet.
Stellt sich mit der Besetzung der beiden Hauptpartien eher die Empfindung ein, statt Werther einer - freilich hochkarätigen -Trovatore-Aufführung beizuwohnen, so erweist sich Elena Galitskayas bodenständige und sich des Lebens freuende Sophie als stimmlich agil, wendig und mit Leuchtkraft begabt. Galitskaya vereinbart die Leichtigkeit des Seins mit ihrer Werther zugewandten Empfindsamkeit. Ein ebenso eleganter wie kernhafter Bariton steht Ivan Thirion für den zwischen Verständnis von Charlottes seelischer Not und Machoattitüde schwankenden Albert zu Gebot. Stimmschönheit gerät bei Thirion niemals zum Selbstzweck, gegenüber Werther und selbst Charlotte macht sich fortschreitend Grausamkeit breit. Indessen stellt sich der ausgezeichnete Kinderchor des Hauses auf Weihnachten ein. Veronique Tollet hat ihn dazu beflügelt. Aus dem Graben tönt ganz Vorzügliches. Giampaolo Bisanti inspiriert das Orchester der Königlich Wallonischen Oper jeder Nuance und Finesse der Partitur nachzuspüren. Gleichermaßen gilt das für die Genreszenen einer nach Massenets Maßgabe durchaus gesitteten deutschen Bierseligkeit, die weihnachtliche Atmosphäre wie die zarten Empfindungen und bisweilen poesiegetränkten Affektschübe Werthers und Charlottes. Kapellmeister und Klangkörper setzen auf viel Sentiment, niemals aber bloße Gefühligkeit. Opéra comique vom Feinsten.
Regisseur Fabrice Murgia erzählt versiert an Libretto und Partitur entlang. Weniger lässt Werthers und Charlottes Beziehung aufmerken, vielmehr erweist sich Albert als zum gar nicht geheimen Zentrum des Werks bestimmt. Zwar dürfen Braut und Rivale in Poesie schwelgen, Albert hingegen durchschaut die Situation schon bei seiner Rückkehr und sinnt auf Vereitelung dessen, was sich anzubahnen droht. Wenn Murgia ihn zunächst besonnen und verständnisvoll gegenüber Werther zeigt, dann nicht um charakterliche Stärke hervorzukehren. Bürgerliche Reputation ist das Maß aller Dinge, Ruhe die erste Bürgerpflicht. Vermeidung von Aufregung und Eskalation oberstes Gebot. Als der Biedermann freilich realisiert, wie sein Widerpart bourgeoise Spielregeln völlig ignoriert, zielt er skrupellos auf dessen Selbsttötung. Unablässig begleitet die Zentralfiguren Giacinto Caponios Videokamera. Nicht unbedingt zu deren Vorteil, hält doch ihre Mimik oft den Closeups nicht stand. Rudy Sabounghi stellt ein behagliches, doch nicht eben geräumiges Wohnzimmer auf die Bühne. Die bürgerliche Welt ist eng. Schon die Jahre der Empfindsamkeit künden das Biedermeier an. Gefährdet ist solche Bequemlichkeit allemal. Draußen ist es frostig. Die Bäume sind kahl. Es schneit beständig. Für alles dies ersinnt Marie Hélène Balau Fräcke und Kleider nach Mode der Wertherzeit.
Dem Publikum gefällt’s. Tosender Beifall.