Fürstin überwindet Standesdünkel
Der Zirkus Stanislawski hat seine Manege open air auf dem Neustrelitzer Schlossberg installiert. Dort, wo sich einst die von den Machthabern im vorgeblich real existierenden Sozialismus bis auf die Grundmauern entsorgte Residenz der Mecklenburg-Neustrelitzer Großherzöge erhob. Die kleine Monarchie im deutschen Norden ging dahin. Nicht anders das Riesenreich der russischen Zaren. Beide durch Revolutionen. Einige Angehörige der Neustrelitzer Dynastie hatten gar ihren Lebensmittelpunkt nach Russland verlegt und dessen Staatsbürgerschaft angenommen. Als die Geschichte des Großherzogtums ihrem Ende zueilte, verquickten sich russische Revolution und Nachfolgefrage im Großherzogtum, bevor sich letztere durch die deutsche Niederlage im ersten Weltkrieg erledigte. Langer Ausführungen kurzer Sinn: Kálmáns Zirkusprinzessin findet auf dem Neustrelitzer Schlossberg bestens vorbereitetes Terrain vor. Zumal Regisseurin Jasmin Solfaghari die Liebesgeschichte um Fürstin Fedora Palinska und Mister X, dem waghalsigen Star der Stanislawski-Truppe, in die Zeit nach der Oktoberrevolution verlegt. Dies gar mit Verweis auf russische Oligarchen und – ohne ihn beim Namen zu nennen - den gegenwärtigen Gewaltherrscher im Kreml. Zwar ergibt sich aus alledem kein auf eine exakte geschichtliche Situation hin profiliertes Zeitstück. Macht aber wenig. Solfagharis Gesellschaftspanorama ersteht aus den Unwägbarkeiten einer Lage, in der vieles nicht ist, wie es scheint. So finanziert die Palinska ihr Jetsetleben keineswegs wie eine Mariza aus ererbten Multimillionen, sie lässt sich von einem Oligarchen aus dem einstigen Fürstenstand mit Geschenken überhäufen und entledigt sich auf ihren Reisen von einer Luxusdestination zur nächsten offenbar auch vom Staatschef erteilter Aufträge. Keine Frage, Palinska wandelt als gesellschaftliche Hochseilartistin auf dem schmalen Grad zwischen Beinahe-Maitresse und Fast-Spionin. Einen weder solventen noch standesgemäßen Mister X kann sie sich eigentlich nicht leisten. Dennoch siegt die Liebe. Woher künftig das Geld zu beider Lebensunterhalt kommen soll, bleibt im fröhlichen Ungefähr. Solfaghari umreißt die prekäre Situation der Liebenden, ohne dem musikalischen Unterhaltungstheater vorzuenthalten, was ihm gebührt. Mister X darf durch tollkühne Reiterkunststücke und atemberaubende Sprungfertigkeit brillieren. Sein Pferd ist, was es ist, der Reiter ein Double, der Meisterspringer ein Dummie. Solfaghari unternimmt gar nicht erst den Versuch, die Nahtstellen zu überspielen, die gewollte Offensichtlichkeit gibt Anlass zu befreitem Lachen. Für das große Staunen sorgt hingegen Lea Toran Jenner mit dem Cyr Rad, einer Art Reifen von der Größe eines Rhönrades, mit dem die Zirkusartistin und aktuelle Weltmeisterin ihrer Disziplin, atemberaubend und zugleich poetisch für echte Manegenatmosphäre sorgt. Munter und immer voller Esprit wieselt die in Neustrelitz ansässige und dem Landestheater eng verbundene Deutsche Tanzkompanie in José Cabas launiger Choreografie durch die Zirkuswelt. Die scheint – wie bei Großunternehmen der Branche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich – über ein feste Behausung zu verfügen. Jedenfalls legt Walter Schützes jugendstilige Cinemascope-Bühne einen solchen Prachtbau nahe. Da ist über die Manege hinaus viel Platz für Bar und Logen. Massenszenen und Tête-à-Têtes finden so ihre jeweils angemessene Umgebung. Schützes Kostüme zeigen sich von den Roaring Twenties inspiriert, deren zeittypisches Produkt Die Zirkusprinzessin ist.
Der stattlichen szenischen Habenseite entspricht die musikalische. Chor und Extrachor des Hauses lassen sich unter Joseph Feigl durchschlagskräftig, präzise und temperamentvoll vernehmen. Auch gewinnen die Damen und Herren durch ihre Spielfreude. Kenichiro Kojima kostet mit der Neubrandenburger Philharmonie das Sentiment der langsamen Walzer ebenso aus wie die bezwingende Verve der „Tingeltangel“-Nummern. Laura Albert ist die als „Zirkusprinzessin“ kompromittierte Fürstin Fedora Palinska. Bei bildschöner Tongebung bewegt sich Albert immerfort auf der Linie sanglicher Eleganz. Ihrem Mister X verleiht Bernd Könnes bisweilen fast heldentenorale Nuancen. Wenn auch aus dem Offiziersstand unter das fahrende Artistenvolk – falls man es denn so formulieren möchte – „gesunken“, bleibt ihm die noble Herkunft anzumerken. Der den zirkusbegeisterten Toni Schlumberger verkörpernde Kyoungloul Kim ist ein Tenorbuffo, wie ihn sich selbst große Häuser – sofern sie noch Wert auf musikalisches Unterhaltungstheater legen – nur wünschen dürfen. Fabelhaft charmant und burschikos bei Stimme gewinnt Kim überdies als fescher Tänzer. Laura Scherwitzl verfügt für die von Schlumberger angehimmelte Zirkusreiterin Mabel Gibson über silberstimmiges Soubrettenflair und tänzerisches Temperament. Kurzum, die perfekte Tanzsoubrette.
Langanhaltender Applaus. Auch während des den Abend beschließenden Feuerwerks. Die Einheimischen kehren nach Hause zurück, um die Aufführung im einstigen Residenzstädtchen nachklingen zu lassen, die zahlreichen Touristen – unter ihnen ganze Familien - in ihre Quartiere zumeist auf der Mecklenburgischen Seenplatte.