Auf der Suche nach dem schlimmsten Krieg
Was reizt und fasziniert an Kriegsbildern und -videos? Lösen Erschießungskommandos, verstümmelte Leichen und Menschen in Todesangst eher Mitleid aus oder befriedigen Sie die Sensationsgier? Diesen Fragen widmet sich Regisseur Milo Rau mit einem ziemlich drastischen Theaterabend über ein wirkliches Gewaltopfer aus dem Irak und der fiktionalen Geschichte einer Kriegsreporterin.
Sand liegt auf der halbrunden Bühne, gespickt mit kaputten Plastikstühlen, Autoreifen und anderem Restmüll. Dahinter prangt eine große Video-Leinwand, die eine wüstenähnliche Landschaft im Irak zeigt mit Wind-zerzausten Sträuchern, herumfliegenden Plastiktüten, im unscharfen Hintergrund ein Flüchtlingslager. Die sandige Theaterbühne und die Halbwüste im Video wechseln sich während der Vorstellung ab. Auf der Bühne agiert Schauspielerin Ursina Lardi als Die Seherin. Die reist als Reporterin in alle möglichen Kriegs- und Aufstandsregionen, um spektakuläre, gruselige Bilder zu ergattern. Stolz schwingt in ihrer Stimme, dass sie Männern, die das Metier normalerweise bestimmen, als schlanke, blonde Frau manches Mal den Rang abläuft. Sie wird im Einfangen von Bildern immer mutiger und dann im arabischen Frühling auf dem Tahrir Platz in Kairo auch etwas unvorsichtig. Das bezahlt sie bitter und muss Gewalt am eigenen Körper erfahren.
Von seiner realen, schockierenden Leidensgeschichte erzählt der irakische Lehrer Azad aus Mossul. 2015, während der Herrschaft des selbst ernannten Islamischen Staats, hacken die hyper-brutalen Kämpfer ihm in aller Öffentlichkeit die rechte Hand ab. Er und sein Bruder seien angeblich als Diebe überführt und das islamische Recht wolle das so. Azad erzählt in mehreren Passagen, abwechselnd mit den Schilderungen der Reporterin.
Die Schauspielerin Ursina Lardi tritt als Die Seherin unspektakulär auf. In Jeans und blauem Polo-Shirt arrangiert sie erst einmal Scheinwerfer, stellt ein Mikrophon in den Sand, als würde sie sich selbst inszenieren. Sie will, das hören wir auch im weiteren Verlauf, als Schauspielerin anwesend bleiben, nicht komplett mit ihrer Rolle verwachsen. „Alles beginnt mit einem Bild“, so erinnert sie an ihre Kindheit. Unter der Bettdecke betrachtet sie schaudernd und fasziniert Bilder, etwa aus dem japanisch-chinesischen Krieg: Soldaten erproben da am lebenden Gegner neue Bajonette. Als sie dann in jungen Jahren eine Nebenrolle in einer Laientheatergruppe über den Krieg um Troja erhält, steigt ihr Bedürfnis wirkliche Kampfhandlungen zu beobachten. So wird sie fast schicksalhaft zur Kriegsfotografin. Da sie erfolgreich ihre Fotos auf den Markt der Sensationen bringt, bekommt sie immer häufiger das Gefühl, dass sie Bombeneinschläge und Militäroperationen voraussehen kann.
Der Regisseur Milo Rau schreibt im Programmheft, dass die Figur von Ursina Lardi zwar fiktiv ist, dass Gespräche mit realen Kriegsfotografen, mit Menschen aus dem Irak sowie Reisen, die Regisseur Milo Rau und Ursina Lardi nach Mossul gemacht haben eingeflossen sind. „Das Stück ist also im eigentlichen Sinn autobiografisch“, so Rau. „Es beruht auf Zeugenschaft und der Überschneidung von Prägungen: Es geschieht nichts, was ich nicht selbst erlebt habe oder was mir nicht Menschen, denen ich nahestehe, erzählt haben. Die Fotos, von denen hier die Rede ist, wurden wirklich gemacht, die Gespräche geführt, die Begegnungen, tragisch oder freundschaftlich, fanden so statt.“
Der Film mit Azad Hassan ist einfach gehalten. Immer wieder sehen wir den gleichen Auftritt zum Interview. Wie aus dem Staub der Wüste erscheint der verstümmelte Mann und erzählt langsam, drastisch, aber auch widerständig. Zum Schluss des Abends sehen wir im Video ihn und Ursina Lardi im Regen durch das heutige Mossul laufen, sehen die chaotische Kreuzung an der die Hand abgehackt wurde, besuchen eine Art Flüchtlingslager für ehemalige IS-Sympathisanten.
Auf der Bühne findet Regisseur Milo Rau ausgefeilte theatrale Mittel mit Lichteffekten, Handy-Kamera, Rhythmus-Verlagerungen. Dabei steht eine hervorragende Schauspielerin auf der Bühne. Ursina Lardi macht in diesem Solo den Text lebendig, fesselt mit ihrer besonnenen Stimme, den Rhythmuswechseln ihrer Erzählung, ihrer Ausstrahlung. Bemerkenswert ist, dass die Inszenierung auf Gewaltdarstellung verzichtet. Mit einer Ausnahme. Das vom IS ins Netz gestellte Handy-Video mit der Vollstreckung der abgehackten Hand wird teilweise gezeigt.
Bleibt als Frage. Lösen die Schilderungen von Mord und Erschießungskommandos, verstümmelten Leichen und Menschen in Todesangst eher Mitleid aus oder befriedigt auch diese Inszenierung ein Schauder-Bedürfnis? Vielleicht beides. Eine allgemeingültige Antwort kann man nicht geben. Jedenfalls lässt der Abend keinen kalt, macht betroffen. Er ist harter Tobak, eindrucksvoll inszeniert und hervorragend gespielt.