Proletensippe bedarf couragierter Tante
Der genius loci lässt sich schwerlich überbieten. Drunten im Tal strömt der Rhein, droben auf dem Felsen dräut die Burg. Im von den Koblenzern während der Sanierung des frühklassizistischen Stammhauses bezogenen Ausweichquartier im Theaterzelt auf dem Ehrenbreitstein scheinen Walhalls Götter auf die Übergabe der einst für uneinnehmbar geltenden machtstrotzenden Riesenimmobilie nebenan zu warten. Fafner und Fasolt hätten da in der Tat ganze Arbeit geleistet. Doch solchen am Deutschen Eck naheliegenden Assoziationen willfährt das Regieduo aus dem Koblenzer Hausherrn Markus Dietze und Inga Schulte keinesfalls. Dietzes und Schultes Götter sind skrupellose Aufsteiger. Parvenüs der schlimmen Sorte. Gefährlich und lächerlich zugleich. Lächerlich im prolligen Habitus, worin der männliche Teil der Wotansippe auf der Walhall-Baustelle im nachlässigen Freizeit-Outfit und unter Benutzung eines mobilen Klosetts, vulgo Dixie-Klo, der Vollendung des Bauauftrags harren. Gefährlich in ihrer Verschlagenheit, die Aversion etwa der Riesen wider Alberich für sich auszuschlachten. Wahrlich hat sich das Opfer eines Auges, um Herrschaft über die Gesetze zu erzwingen, für Wotan rentiert. Als legitimistisches Blendwerk, das mindestens gelegentlich die Widersacher übertölpelt. Was also zunächst und an der Oberfläche als Reality Soap aus dem Dunstkreis bildungsferner Milieus daherkommt, offenbart nur zu bald die in Wirklichkeit abgefeimt-brutale Machtergreifung. Alles dies zeigt sich in ein virtuelles Spektakel implementiert. Bühnenbildner Christof von Büren findet gerade einmal Gelegenheit, ein Baustellengerüst samt Mischmaschine und besagtem stillen Örtchen auf die Bühne zu stellen. Eine Wand dient als Projektionsfläche für Ulrich Stöckers Digitaloffensive. Motion Capture überträgt die Schwimmkunststücke der Rheintöchter auf virtuell generierte niedliche Mischwesen mit anthropomorphem Oberkörper und Tintenfisch- respektive Quallenunterleib. Disney lässt grüßen. Indes erliegen die anmutig-munteren Wasserspiele dem Druck männlichen Machtgelüsts. Gegen Alberichs Nibelheim darf der Borg-Kubus aus Star Trek unter „Schöner Wohnen“ firmieren. Kontraste wie dieser generieren Witz und Grusel, mithin beste Unterhaltung. Allemal tragen sie der Eigenschaft von Rheingold als einer der boshaftesten und schrillsten deutschen Komödien Rechnung.
Zum musikalischen Faszinosum gerät das Koblenzer Rheingold schon durch den Umstand, dass - mit Ausnahme der Alberichs - sämtliche Partien aus dem eigenen Ensemble besetzt werden können. Nico Wouterse verkörpert einen vokal raumgreifend-rauen, rohen und vor keiner Niedertracht scheuenden Wotan. Der völligen Verwandlung ins Scheusal wehrt Wouterse durch Beimischung des notwendigen Quäntchens sanglicher Kultiviertheit. Dass das kleine Koblenzer Haus über einen festengagierten Heldentenor verfügt, erwirtschaftet beträchtlichsten künstlerischen Mehrwert. Tenoral verleiht nun Hausheld Tobias Haaks seinem Loge völlig andere Statur, als gewöhnlich zu vernehmen ist. Haaks‘ Loge stammt aus weitaus älteren Götterwelten als die Wotansippe und blickt auf diese wahrlich von oben herab. In Damenmode die Lichtalben gleichsam als „Charleys Tante“ heimsuchend, trumpft Haaks vokal und spielerisch gewaltig auf. Beinahe zu gewinnend kommt Haruna Yamazakis Fricka über die Rampe, doch entzückt, wie sie die Wotansgemahlin ganz auf die Linie sanglicher Schönheit führt. Als einziger Gast mischt sich Lawson Anderson mit seinem eiskalten Alberich ins Geschehen. Dem Staatsorchester Rheinische Philharmonie entlockt Marcus Merkel gleichermaßen dramatische Verve und romantischen Impetus.
Dem Koblenzer Rheingold wird die übrige Tetralogie nicht folgen. Eingedenk der Tatsache, dass von den Mittelrheinern in den zweitausender Jahren Die Walküre beachtlich gestemmt wurde, durchaus bedauerlich.