Mülheimer Dramatikerpreis an Sivan Ben Yishai
Diesmal ging es ungewöhnlich schnell: Nach knapp zweieinhalbstündiger Diskussion einigte sich die die Jury auf die Gewinnerin des Mülheimer Dramatikerpreises 2022. Lob und Ehre sowie ein Preisgeld von €15.000,- gehen in diesem Jahr an Sivan Ben Yishai für ihr Stück Wounds Are Forever - Selbstportrait als Nationaldichterin, das in Mülheim in einer Inszenierung vom Nationaltheater Mannheim gezeigt wurde.
Die Autorin Sivan Ben Yishai ist gleichzeitig Hauptfigur ihres Stückes. In einem wahren Parforceritt fegt sie – teils auf dem Rücken eines Schäferhundes – hin und her durch die jüdisch- und israelisch-deutsche und die israelisch-palästinensische Geschichte der letzten 100 Jahre. Wounds Are Forever – das hat die Kostüm- und Bühnenbildnerin Moran Sanderovich mit der gruseligen Ausstattung ihrer Figuren perfekt transportiert. Es sind die Wunden, die die Geschichte geschlagen hat: der Holocaust, die Palästinenserkriege, der Gaza-Konflikt, das ewige Muster von Rache und Vergeltung. In der Begründung der Jury heißt es u. a.: „Die Figur der Autorin verwandelt sich ständig: in eine Holocaustüberlebende, in eine sowjetische Partisanin, in eine Asylsuchende unter Wasser, in eine überzeugte Zionistin. Das Stück ist Spurensuche und Selbstbefragung zugleich; das Offenlegen individueller Wunden macht dabei die kollektiven Wunden sichtbar.“ Ben Yishai sei als Autorin „der Roberto Bolano des Theatertexts", sagte der begeisterte Juror Robert Borgmann mit einer zugegebenermaßen etwas hochgegriffenen Formulierung, und Jurorin Felicitas Zürcher von den Bühnen Bern ergänzte, Ben Yishai verbinde Aktivismus mit Kunst.
Bereits in den Jahren 2017 und 2018 hatten Inszenierungen vom Nationaltheater Mannheim in Mülheim gewonnen. Das Haus legt bereits seit vielen Jahren einen Schwerpunkt auf die Pflege zeitgenössischer junger Dramatik, und zum zweiten Mal nach Thomas Köcks paradies spielen. (abendland. ein abgesang) im Jahre 2018 war Marie Bues die Regisseurin der Sieger-Inszenierung. Das Schauspielhaus Wien kann sich freuen: Wie am Tag des Mülheimer Gastspiels von Wounds Are Forever bekannt wurde, übernimmt die Regisseurin ab der Spielzeit 2023/24 als Teil eines Quartetts die künstlerische Leitung der ebenfalls für zeitgenössische Stücke und Uraufführungen renommierten Bühne in der österreichischen Bundeshauptstadt.
Vier der fünf Juroren gaben Sivan Ben Yishai ihre Stimme; die Kulturjournalistin und Jurorin Dorte Lena Eilers votierte für Teresa Dopler und ihr vielschichtiges Drama Monte Rosa, das vordergründig vom Bergsteigen handelt, sich aber tatsächlich auf spielerische und humorvolle Weise mit dem krankhaften Zwang zur Selbstoptimierung, dem Konkurrenzkampf in der Leistungsgesellschaft und dem Klimawandel beschäftigt.
Den Publikumspreis gewann überraschend Akin Emanuel Sipal für sein integrationspolitisches Stück Mutter Vater Land, das bei der Profi-Jury auf Platz 5 landete und in einer verschachtelten Dramaturgie die deutsch-türkische Familiengeschichte des Autors im Verlauf von drei Generationen behandelt, sich gegen Pauschalisierungen wendet und einen differenzierteren Blick auf die Vertreter verschiedener Kulturen fordert.
theater:pur berichtet über einige der Mülheimer Aufführungen in Einzel-Rezensionen, die nach und nach erscheinen werden. Darüber hinaus werden wir in wenigen Tagen einen ausführlichen Rückblick auf die Mülheimer Theatertage und die Jury-Diskussion werfen.
Bereits am 15. Mai wurde der diesjährige Preisträger des KinderStücke-Wettbewerbs gekürt. Den ebenfalls mit € 15.000,- dotierten Preis erhielt Milan Gather für sein Stück Oma Monika – was war?, das in der Regie des Autors vom Jungen Ensemble Stuttgart uraufgeführt und in Mülheim gezeigt wurde. Das Stück beschäftigt sich mit dem Thema Demenz. Es verhandele Lebens- und Zeitlinien in einer „berührenden Jonglage des Seins“, erklärte die Jury, die nach 80-minütiger Debatte einstimmig für den „großen Wurf“ votierte. theater:pur freut sich mit allen Preisträgerinnen und Preisträgern und gratuliert herzlich. - Dietmar Zimmermann