Übrigens …

In memoriam: Evelyn Lear, Jean Cox, Franz Crass, Dietrich Fischer-Dieskau

In den vergangenen zwei Monaten verstarben vier Sänger, deren Wege sich wohl alle irgendwann kreuzten, mal häufiger, mal weniger häufig. Drei von ihnen führte 1964 die Berliner Schallplattenaufnahme von Mozarts Zauberflöte unter Karl Böhm zusammen: Evelyn Lear (Pamina), Dietrich Fischer-Dieskau (Papageno) und Franz Crass (Sarastro). Die Erstgenannten wirkten auch bei Böhms Einspielungen der Alban-Berg-Opern Wozzeck und Lulu mit. Bei Jean Cox wird man phonomäßig sehr viel weniger fündig. So weit zu sehen, gibt (bzw. gab) es von ihm nur eine einzige offizielle Einspielung, nämlich ein Wagner-Recital unter Hans Wallat mit dem Orchester des Nationaltheaters Mannheim, ein Haus, welchem der Sänger viele Jahre bis zu seinem Bühnenabschied 1996 angehörte. Die Bayreuther Meistersinger von 1974 mit Cox als Stolzing - übrigens zusammen mit seiner Gattin Anna Reynolds als Magdalena - sind ja lediglich ein geschönter Livemitschnitt.

Ladies first…  Evelyn Lear war eine überaus fleißige und sicher auch ehrgeizige Künstlerin. Am 8. Januar 1926 in Brooklyn geboren, studierte sie zunächst Klavier. Als ebenfalls ausgebildete Hornistin gab sie u.a. Konzerte unter Leonard Bernstein. Doch dann lockte der Gesang. An der Juilliard School New York ließ sich Evelyn Lear ausbilden und setzte die Lehrjahre, gemeinsam mit ihrem Gatten, dem Bariton Thomas Stewart, an der Berliner Musikhochschule fort. Die Deutsche Oper Berlin nahm sie in ihr Ensemble auf, dann folgte eine internationale Karriere. Evelyn Lear entwickelte sich zu einer herausragenden Mozart-Interpretin, engagierte sich aber auch stark für die Moderne. Die Uraufführungen, bei denen sie mitwirkte, ergeben eine stattlich Zahl: Alkmene von Giselher Klebe (Berlin 1961), Verlobung von St. Domingo von Werner Egk (München 1963, mit Fritz Wunderlich), Mourning becomes Electra von Marvin David Levy (New York 1967), The Seagull von Thomas Pasatieri (Houston 1974) und Kirschgarten von Rudolf Kelterborn (Zürich 1984). Von der Metropolitan Opera verabschiedete sich die Sängerin 1985 mit der Marschallin (seit kurzem ist ihr Rotterdamer Rosenkavalier von 1976 wieder greifbar). Evelyn Lear beherrschte das traditionelle Repertoire, doch verkörperte sie besonders gerne „neurotic modern heroines“, und ihre außerordentliche Bühnenpräsenz  bekam sie u.a. von der gestrengen Elisabeth Schwarzkopf bescheinigt. So fiel es ihr auch nicht schwer, später sogenannte Altersrollen zu übernehmen. Ähnlich wie Anja Silja wechselte sie von der Lulu zur Gräfin Geschwitz (Chicago 1987) und verkörperte 1991 in Dallas bei letzten Bühnenauftritten die Knusperhexe in Humperdincks Hänsel und Gretel. Am 1. Juli dieses Jahres verstarb Evelyn Lear. In ihrer Reihe „Original Masters“ veröffentlichte Universal vor einigen Jahren die kompletten DG-Aufnahmen, darunter auch gemeinsame Einspielungen mit Thomas Stewart. Leider ist diese Kassette schon wieder vom Markt verschwunden.

Wenn man sich vor Augen führt, dass Jean Cox (* 16. Januar 1922) rund 75 Rollen beherrschte, ist das Bild eines Wagner-Tenors eindeutig zu eng gegriffen. An seinem Stammhaus Mannheim war 1996 der Ägisth in Straussens Elektra seine Abschiedspartie, sieben Jahre zuvor verkörperte er den Captain Vere in Brittens Billy Budd. In seinen frühen Jahren sang er sogar Operette (es gibt Szenen aus der 61er Bregenzer Aufführung von Trauminsel/Robert Stolz). Während seiner Braunschweiger Jahre gab er u.a. den Grafen Almaviva in Rossinis Barbiere, übrigens an der Seite von Anja Siljas Rosina, die in ihrer Autobiografie freimütig eingesteht, sich damals in ihren feschen Partner verguckt zu haben. Und der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch an eine Fernseh-Fassung von Ravels Spanischer Stunde in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, wo Cox als Dichter Gonzalve die kesse Conception von Anneliese Rothenberger anschmachtete. Bereits damals kam es zu einem Engagement nach Bayreuth. Mit dem Steuermann im Fliegenden Holländer gab er 1956 seinen Einstand bei den Festspielen. Die Aufführung ist auf CD greifbar, freilich nur in einem nicht-autorisierten Mitschnitt. Von da an entwickelte sich Jean Cox kontinuierlich zum Heldentenor. Darstellerische Vitalität und maskuline Attraktivität ließen den Siegfried zu seiner Paradepartie werden, auch auf dem Grünen Hügel. Selbst nach dem offiziellen Abschied kehrte er mehrfach als Einspringer zurück.

Die Stimme von Franz Crass (* 9. März 1928) wird als Bassbariton klassifiziert. Obwohl der Sänger mit einer ausladenden Höhe aufwarten konnte, war er doch klug genug, mit Grenzpartien nicht allzu häufig in Erscheinung zu treten. Zu Wagners Holländer war er von Wieland Wagner gedrängt worden (Bayreuth 1960/61, neben der 20jährigen Anja Silja). Auch als Telramund (Lohengrin), Orest (Elektra) oder Barak (Die Frau ohne Schatten) trat er nur vereinzelt auf. Aber baritonaler Belcanto-Fluss kam seinen Basspartien sehr zugute (so auch bei Sarastro unter Böhm) und ließ ihn auch im Konzertbereich erfolgreich sein. In der Zauberflöte hatte Crass bereits als Elfjähriger auf der Bühne gestanden (2. Knabe), betätigte sich vor seinem Gesangsstudium auch als Schauspieler. 1981 nahm er in Frankfurt als Eremit in Webers Freischütz Abschied von der Bühne, nachdem er jahrelang gegen eine zunehmende Ertaubung gekämpft hatte. Im vergangenen Jahr wurde er nach einem Unfall bettlägerig und musste sich in ein Pflegeheim begeben, wo er auch verstarb.

Über Dietrich Fischer-Dieskau (28. Mai 1925 bis 18.Mai 2012) möchte man sich eigentlich uferlos verbreiten. Über seine Vielseitigkeit (Sänger, Dirigent, Maler, Schriftsteller), seine künstlerische Seriosität und natürlich vor allem über seinen epochalen Einsatz für die Kunstgattung Lied. Doch was kann den vielen Nachrufen an wirklich Essenziellem noch folgen? Hier nur Stichworte... Dietrich Fischer-Dieskaus pointierter Gesangsstil fand durchaus nicht nur Zustimmung, nicht jede seiner Opernrollen wurde voll akzeptiert (schlag nach bei Kesting). Doch das Meiste gilt zu Recht als legendär. Im Opernbereich der Glucksche Orpheus (in Baritonlage im Grunde erstmals legitimiert), Wagners Wolfram, der Mandryka in Arabella (lange Jahre neben Lisa della Casa, später neben Julia Varady, seiner vierten Frau), Busonis Doktor Faust oder Aribert Reimanns Lear (UA 1978). Im Bereich des Liedes wurde Dietrich Fischer-Dieskau mit Schuberts Winterreise geradezu identifiziert.

Eine persönliche Erinnerung zum Schluss. Bei mir haftet als einer der größten interpretatorischen Eindrücke ein Rezitations-Abend in der Kölner Philharmonie, bei dem Dietrich Fischer-Dieskau gemeinsam mit Gert Westphal (!) aus Novellen E. T. A. Hoffmanns las und bei dieser Gelegenheit - bereits nach Abschied von seiner Sängerkarriere - noch einmal seinen (völlig intakten) Bariton erklingen ließ. Da wehte es einen schon mächtig an.