Übrigens …

Talent ist, wenn man fremden Kummer empfinden kann

Ein Interview mit Vera Gorschkowa, Gründerin und Leiterin des VERA-Theaters Nischnij Nowgorod

 

 

theater:pur: Standing Ovations in der Kirche, jede Menge Chancel Calls: Das hat Pfarrer Jens Kölsch-Ricken  im Katernberger Dom bestimmt noch nicht häufig erlebt. Frau Gorschkowa, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu einer gelungenen Aufführung von „Medeas Kindern“ an einem ungewöhnlichen Ort!

Vera Gorschkowa: Danke, wir sind tatsächlich sehr erleichtert, dass die Vorstellung beim Publikum gut angekommen ist. Wir haben noch nie zuvor in einer Kirche gespielt und hatten einige Bedenken, ob die Aufführung hier funktionieren würde.

tp: Warum? Glauben Sie, dass Ihre Schauspieler Hemmungen hatten, in einem sakralen Raum Theater zu spielen? Zugegebenermaßen haben wir ja auch kurz an Pussy Riot gedacht, aber die Aufführung ist ja keineswegs provokant.

VG: Nun, in erster Linie hatten wir Angst vor der Größe des Raums. In Nischnij Nowgorod spielen wir in einem kleinen Zimmertheater. Als wir die Einladung nach Essen erhielten, dachten wir, dass wir in einem Gemeinderaum oder allenfalls in einer kleinen Kapelle spielen würden. Völlig überraschend sahen wir uns dann mit dieser riesigen „Kathedrale“ konfrontiert. Tatsächlich gab es auch die Sorge, die Gefühle der Gläubigen zu verletzen. An Pussy Riot haben wir allerdings nicht im Entferntesten gedacht …

tp: Hat sich die heutige Aufführung denn unterschieden von den Vorstellungen der gleichen Inszenierung in Nischnij Nowgorod?

VG: Oh ja, sie war vollkommen anders. Die heutige Aufführung ist in nichts zu vergleichen mit dem, was wir in Nischnij auf die Bühne bringen. Dort ist der Raum viel intimer; der Kontakt zum Publikum ist unmittelbarer, und wir erreichen eine größere Intensität unseres Spiels. Zu Hause ist die Aufführung eher ein Kammerspiel; hier mussten wir viel lauter und expressiver spielen.

th-pur: Hat das Publikum heute auch anders reagiert als Sie es in Nischnij gewohnt sind?

VG: Ja, ich glaube schon. Das Publikum in Essen hat spontaner, deutlicher und unmittelbarer auf die Aufführung reagiert. In Nischnij Nowgorod erleben wir meist stille, eher verhaltene Zuschauerreaktionen.

tp: Wie sieht denn die Publikumsstruktur in Ihrem Hause aus? Sie sind ja ein Kinder- und Jugendtheater, und heute waren vorwiegend erwachsene Zuschauer in der Kirche.

VG: Natürlich haben wir in Nischnij Nowgorod ein jüngeres Publikum – auch in diesem Stück. Aber gerade Medeas Kinder wird von vielen Familien besucht. Häufig handelt es sich um Familien, die ebenfalls in einem Trennungsprozess stehen, bei denen sich die Eltern scheiden lassen wollen oder bereits geschieden haben. Häufig kommen solche Eltern aber auch ohne ihre Kinder zur Vorstellung und sehen sich das Stück an. Wir sind dann mit unserer Inszenierung so eine Art Lebensberater, im besten Falle sogar Familien- oder Paar-Therapeuten.

tp (lacht):Ich fürchte, so etwas ist in Deutschland nicht vorstellbar. Da sage noch einer, Theater habe keine Relevanz mehr! Ihre Schauspieler haben ja vielfältige Funktionen! Handelt es sich bei Ihren Schauspielern eigentlich um „Voll-Profis“, die ihr Geld ausschließlich mit Theater verdienen, oder müssen Ihre Leute noch andere Jobs ausüben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen?

VG: Nein, nein! Das sind alles professionelle Schauspieler. Manche von ihnen sind aus der Schule hervorgegangen, die zu unserem Theater gehört und in der ich zusätzlich zu meiner Tätigkeit als Theaterleiterin und Regisseurin als Dozentin tätig bin.

tp: Oh, das wusste ich nicht: Sie haben noch eine Schauspielschule?

VG: Nun, es ist nicht nur eine Schauspielschule. Wir arbeiten dort mit Kindern und Jugendlichen zwischen sieben und siebzehn Jahren, und natürlich erarbeiten wir mit denen auch kleine und größere Stücke und Aufführungen. Das Theater VERA verbindet aber den klassischen Theaterbetrieb mit zahlreichen Repertoire-Vorstellungen mit einer Vielzahl von theaterpädagogischen Aufgaben und Angeboten, also dem Bereich der kulturellen Bildung. Der Übergang ist dabei fließend. Zirca 100 Kinder und Jugendliche sind an das Haus angedockt; die Kinder kommen zwei- bis dreimal pro Woche für jeweils zwei bis drei Stunden ins Theater; Jugendliche und Studenten vier- bis fünfmal pro Woche für jeweils drei bis vier Stunden. Besonders talentierte Schüler erhalten die Möglichkeit einer Schauspielausbildung und das Angebot einer Übernahme ins Ensemble. Wissen Sie eigentlich, was unsere Vorfahren gesagt haben? Sie haben gefragt: „Was ist Talent?“ Antwort: „Talent ist, wenn man fremden Kummer empfinden kann.“ Fremden Kummer empfinden – wo kann man das besser lernen als im Theater?

tp: Ein toller Satz – und eine tolle Lebensweisheit. Ihr theaterpädagogisches Konzept bezieht sich ja sicher nicht nur auf die 100 „angedockten“ Nachwuchskräfte, sondern auch auf Ihre Arbeit mit dem Publikum. Gehen die Schulen mit ihren Kindern in Russland eigentlich noch regelmäßig ins Theater?

VG: Ja, wir haben viele Schulklassen unter unseren Besuchern. Und wenn die Schulen nicht kommen, dann gehen wir eben in die Schulen! Tatsächlich betrachten wir es in erster Linie als unseren Auftrag, Kinder und Jugendliche an die Literatur und das Medium Theater heranzuführen. Wir müssen dabei leider in Betracht ziehen, dass Kinder heute nicht mehr lesen. So versuchen wir, die jungen Menschen über unsere Arbeit mit der russischen und internationalen Literatur vertraut zu machen – und auch mit den anderen Möglichkeiten, sich auszudrücken, die die Literatur im Vergleich zu Computerspielen, Fernsehen oder der Popkultur bietet. So gewinnen wir junge Menschen für das Theater, die in der Familie kaum noch in Berührung kommen mit dieser Form des Geschichtenerzählens oder dieser Möglichkeit des Ausdrucks von Gefühlen.

tp: Das klingt, als würden Sie in erster Linie Literaturtheater machen. In Deutschland holen wir die Kinder oft durch Inszenierungen ab, die eine Art von jugendlichem Regie-Theater sind. Da werden die Klassiker neu interpretiert und in die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen transportiert; da wird Rammstein-Musik gespielt, und es herrscht eine Video- und Pop-Ästhetik vor, die die Jugendlichen aus dem Fernsehen oder vom PC kennen. 

VG: Ja, ich kenne das. Mit Musik arbeiten wir auch, aber die Vermittlung von Theater und Literatur als Kunstform steht immer im Vordergrund. Das heißt aber nicht, dass wir uns von der Lebenswelt der Kinder entfernen: Medeas Kinder zum Beispiel ist Teil eines größeren Projekts, das typische Jugendthemen aufgreift wie die Drogen-Problematik, kindliche Einsamkeit, Familiendramen und vieles andere mehr.

tp: Mir scheint, dass der Bildungs-Aspekt in Ihrer Arbeit doch erheblich mehr im Vordergrund steht als in der aktuellen Theaterarbeit in Deutschland.

VG: Ja, das ist uns sehr wichtig.

tp: Wie finanzieren Sie Ihr Theater eigentlich? Es muss doch sehr schwer sein, ein so kleines Haus mit lauter Profi-Schauspielern am Leben zu halten.

VG: Nun, so klein sind wir gar nicht: Wir spielen bis zu 38 Vorstellungen im Monat in parallelen Vorstellungen und haben heute 30 Schauspieler. Wir finanzieren uns nahezu ausschließlich aus städtischen Zuschüssen. Da wir einen wichtigen Faktor für das Bildungswesen in der Region darstellen, erhalten wir eine relativ großzügige Förderung.

tp: Und wie sieht es mit privaten Sponsoren aus?

VG: Private Zuschüsse gibt es praktisch gar nicht mehr. Nach der Wende, in der Zeit um 1991/1993 gab es ein paar private Förderer, aber diese Quelle ist vollständig versiegt.

tp: Und wie ist Ihre Kooperation mit der Studio-Bühne Essen zustande gekommen?

VG: Irgendwann in der ersten Hälfte der 90er Jahre hat eine Delegation der Stadt Essen mit Repräsentanten aus Politik, Kultur und Wirtschaft Nishnij Nowgorod besucht (Anm. d. Red.: Nishnij Nowgorod ist Partnerstadt von Essen, der Oblast Nishnij Nowgorod war Partner-Region des Landes NRW in der Russischen Föderation). Damals haben Siegfried Plewa, der damalige Chef und heutige Ehrenvorsitzende der Studio-Bühne, und ich einander kennengelernt, und wir haben uns gleich gut verstanden. Auch im Hinblick auf unsere Theaterarbeit hatten wir gleich einen Draht zueinander. Wir haben einen Austausch einer unserer Produktionen beschlossen; im Jahre 1995 hat uns die Studio-Bühne mit einem Stück von Vincent Cardinal (Die Gondel zu Gott) besucht, und wir waren im Gegenzug mit zwei Tschechow-Einaktern und einem kurzen Stück von William Gibson in Essen. Daraus ist eine wunderbare Zusammenarbeit entstanden. Wir haben einen Abend mit Puschkin-Einaktern herausgebracht und dann mit den Essener Schauspielern Puschkins Kleine Tragödien einstudiert – eine Produktion, die die Studio-Bühne in Nischnij Nowgorod in deutscher Sprache präsentiert hat. Dann haben wir Von Gurken und anderen Törtchen, ein Kinder-Theaterstück von Ksenia Dragunskaja, inszeniert, das zweisprachig angelegt ist, und die Essener Schauspieler haben die deutschen Texte gespielt, unsere eigenen Schauspieler die russischen. Das war ein großer Moment unserer Zusammenarbeit. Wir sind immer wieder dankbar, dass wir die Partnerschaft mit dem Essener Theater haben.

Kerstin Plewa-Brodam, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Studio-Bühne (tritt hinzu): Im nächsten Jahr feiern wir den 20. Jahrestag unseres Theateraustauschs. Da machen wir ein ganz großes Fest draus!

tp: Dann sind wir ganz sicher wieder dabei. Spassiba bolschoi, Frau Gorschkowa, für dieses Gespräch, und noch viel Erfolg und viel Vergnügen während der deutsch-russischen Theaterwoche in Essen.  

(Das Interview führten theater:pur-Autor Dietmar Zimmermann [Meerbusch] und Dr. Gisela Zimmermann, Bonn, Referentin Hochschulprojekte Osteuropa/Zentralasien/Kaukasus beim DAAD. Frau Dr. Zimmermann hat auch die Übersetzung vom Deutschen ins Russische und zurück vorgenommen.)

Foto oben links (von links nach rechts): Kerstin Plewa-Brodam (Stellv. Vorsitzende Studio-Bühne Essen), Vera Gorschkowa (Leiterin Theater VERA, Nishnij Nowgorod/Russland), Pfarrer Jens Kölsch-Ricken (Ev. Kirchengemeinde Essen-Katernberg), Michael Steinhorst (Vorsitzender Studio-Bühne Essen), Igor Wenzel (Vorstandsmitglied Forum Russlanddeutsche in Essen und Leiter Stadtteilzentrum Kon-Takt). (Foto: Frank Vinken)