Frank Wickermann ist tot

Ich bin Judas“, sprach Frank Wickermann in trotziger Selbstbehauptung. „Ich bin stolz auf meinen Namen.“ In Lot Vekemans‘ Monologstück hatte Wickermann gegen Ende das schwarze Shirt auf links gezogen, auf dem der Name Judas prangte. Nun lasen wir, stolz und selbstbewusst präsentiert, den Namen „Frank“. Auch auf diesen Namen durfte Wickermann stolz sein. Er ließ die Person des Judas und seine persönliche Biografie mit einander verschwimmen. Er erzählte von Frank, dem hitzigen Kind und dem Raufbold. Wer Wickermann von der Bühne des Schlosstheaters Moers kannte, glaubte ihm den Raufbold aufs Wort.

Sein Spiel war stets ungeheuer kraftvoll. Wenn Wickermann auf der Bühne stand, hatte er Präsenz. Er konnte laut sein, dominant, aufbrausend. Als brutaler, gefühlloser Folterer O’Brian aus George Orwells 1984 verbreitete er noch im Publikum Angst und Schrecken. Grandios war sein George in Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf…?. Immer wieder sackte er, getroffen von den Demütigungen durch seine Frau Martha, in sich zusammen, doch der Kraftprotz gab im gnadenlosen Ehefight niemals auf. Am Ende holte George zum ultimativen Schlag aus. Aber Wickermann konnte auch anders: In Simon Stephens‘ Pornographie gab er zunächst das „Mädchen“ aus einem Schwulen-Paar, bevor er sich in einer gespenstischen Szene in eine 83jährige spinster verwandelte. Überhaupt: seine Frauenrollen! Aberwitzig geriet ihm die Königswitwe Margaret in Richard III.; gleichzeitig karikierte er Edward IV. als eine Monty Python Version von Muammar al-Gaddafi. Doch Frank Wickermann zeichnete sich auch durch hohe Sensibilität aus: Ganz zart und sensibel gab er, der oft so laute Temperamentsbolzen, in Susan Sontags Todesstation den permanenten seelischen Schwankungen ausgesetzten Diddy Harron.

Diese Sensibilität, gepaart mit Hilfsbereitschaft, Humor und künstlerischer Phantasie, zeichnete auch den Menschen Frank Wickermann aus. Er war, wie theater:pur einmal schrieb, gefühlt seit dem Beginn der Geschichte des modernen Schauspiels erster Schauspieler am Schlosstheater und Anchor Person für die langjährigen Moerser Zuschauer. Seit 1999 war er dem Haus verbunden. Die Moerser liebten ihn – und in Publikums-Diskussionen konnte man spüren, dass auch er seine Zuschauer liebte. Als Schauspieler geht man ohnehin nicht des Ruhms wegen nach Moers, sondern wegen der einzigartigen Atmosphäre des Theaters und der ungewöhnlichen Möglichkeiten, die sich unter der kreativen, sich alle paar Jahre auf wundersame Weise neu erfindenden Leitung des Hauses ergeben. Frank Wickermann wusste diese Möglichkeiten zu nutzen. Als kleinstes Stadttheater der alten Bundesrepublik erhält das Schlosstheater wenig überregionale Resonanz. Frank Wickermann aber – und das ist nicht das übliche Nachruf-Gesülze, sondern die reine Wahrheit– war einer der prägenden Schauspieler in NRW, und wer ihn häufiger erleben durfte, wird ihn nicht vergessen.

Am Donnerstagabend, dem 2. April 2020, ist der gebürtige Bochumer im Alter von 54 Jahren völlig überraschend verstorben. Sein Judas, mit dem er dem Zuschauer ganz neue Blickwinkel auf die alte biblische Geschichte eröffnete, sagte über seinen Herrn Jesus Christus: „Ich wäre gern mit ihm durch die Wüste geritten ... Ich wäre gern mit ihm über die Meere gefahren, über Berge gezogen, auf dem Weg zu Ländern, die ich noch nicht kannte, auf dem Weg zu Völkern, die ich noch nicht kannte.“ Diese Neugier zeichnete wohl auch Frank Wickermann aus. Möge sie ihm auch in der anderen Welt, die er nun betritt, nicht abhandenkommen.


Foto: Klaus Dieker