Ein zerstörerisches Kollektiv
Den tobenden Wellen, die mit geballter Kraft auf die Küste auftreffen und Straße für Straße überfluten, sind sie gar nicht so unähnlich, die Bewohner dieses Dorfes irgendwo an der englischen Küste. Mit derselben Entschlossenheit wie diese Wellen überschwemmen sie all das, was ihren gewohnten Lebensfluss verändern könnte. Und so ist der Tod des Fischers Peter Grimes geradezu unausweichlich, denn er, der Eigenbrötler und angebliche Mörder seines Lehrjungen, beharrt auf seinem eigenen Weg zu einem zufriedenen, glücklichen Leben. Das ihm indes verwehrt wird.
Helen Malkowsky geht es in ihrer Inszenierung von Benjamin Brittens Oper Peter Grimes im Theater Bielefeld gar nicht so sehr um das Seelenleben des Außenseiters und seiner zarten Liebesgeschichte. Vielmehr rückt die Regisseurin mit bewundernswerter Konsequenz das unerbittliche Kollektiv der Dorfbewohner in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, legt die Mechanismen von Ausgrenzung und Vorverurteilung offen. Indem sie die herausragenden Protagonisten immer wieder äußerst geschickt in den großen Chor integriert. So wird augenfällig, wie Meinungen gemacht und Gerüchte gestreut werden - vielleicht nur verhalten und ziemlich individuell vorgetragen, in jedem Fall aber als Allgemeines ins Bewusstsein der Gemeinschaft überführt. Eine scheinheilige, pharisäerhafte Gemeinschaft, wie Malkowsky gleich zu Beginn unterstreicht. Individuelle Verfehlungen wie Kindesmissbrauch und Gewalt in der Ehe werden unzweideutig sichtbar, einprägsam dank zeitlupenartiger Wiederholungen. Hinter der so sauberen Fassade sieht es also ziemlich grauslig aus. Und all die ausgelassene Fröhlichkeit in Aunties Kneipe „The Boar“? Auch nichts anderes als falscher Schein.
Auf der weitgehend leer gehaltenen Bühne von Saskia Wunsch spielen der gemalte Hintergrund (eine etwas kitschige Meerlandschaft) und ein orangefarbenes Absperrband zentrale Rollen: Das nette Landschaftspanorama zerstört Peter Grimes plakativ mit einem scharfen Messer. Es taucht wenig später geflickt wieder auf. Das Absperrband halten die Dorfbewohner gemeinsam in Händen und symbolisieren die Abgrenzung des Kollektivs vom Außenseiter, aber auch den Wunsch nach Ruhe und einem geordneten „bürgerlichen“ Leben, unterstrichen von Henrike Brombers die Zeit der 1940er Jahre zitierende Kostüme.
Malkowskys Regie besticht vor allem auch durch die Personenführung: Da wirkt der Chor wirklich wie ein Schwarm quirliger Fische, der sich quasi ferngelenkt immer wieder neu aufstellt, mal in angriffslustig-aggressiver, mal in abwehrender Formation. Nur wenn die Dorfgemeinschaft entspannt feiert, löst sich die starre Haltung. Das ist fantastisch gemacht!
Malkowskys Konzept fordert ein konzentriertes, leistungsstarkes Ensemble. Genau dies steht der Regisseurin in Bielefeld, in dem Haus, dem sie seit der Spielzeit 2010/2011 als Operndirektorin angehört, zur Verfügung. Da ist der von Hagen Enke brillant einstudierte Chor, der einen stürmischen Premierenbeifall bekommt. Und da sind die Solistinnen und Solisten, die im Wesentlichen dem traditionell ausgezeichnet besetzten Hausensemble angehören. Cornelie Isenbürger und Christiane Linke sind ganz anrührend die nur scheinbar immer gut gelaunten, vom Leben aber schon gezeichneten leichten Mädchen. Ihre schönen, dabei so wunderbar unterschiedlich gefärbten Stimmen inspirieren die Tenöre zum Religionsstreit: Michael Pflumm als eifernder Methodist Boles und Reto Raphael Rosin als Dorfpfarrer Adams. Jacek Janiszewski zeichnet den selbstgefälligen Anwalt Swallow eher unbehauen, während Torben Jürgens als ängstlicher Fuhrmann und Daniel Billings als verschlagener Apotheker ihre flexiblen Stimmen leuchten lassen. Xenia Maria Mann schleicht als eine vom öden Dasein frustrierte Hobby-Miss-Marple durch Dorf und Kneipe, ebenso überzeugend wie Ceri Williams als pragmatische, ja kluge Wirtin Auntie. Jacek Strauch ist ein in sich ruhender Balstrode mit solidem Stimmfundament – einer, der mit seinem Versuch, zwischen Peter Grimes und dem Rest der Gesellschaft zu vermitteln, dennoch scheitert.
Peter Bronder als Gast in der Titelrolle verfügt über den idealen Tenor für diese Partie – hell, fein und doch kraftvoll. Hautnah spürbar werden verletzliche Zurückgezogenheit ebenso wie verzweifelte Ausbrüche.
Und dann ist da die grandiose Sarah Kuffner als Ellen Orford. Intensiv in der Klanggebung, lässt sie keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit, mit der sie sich als Verbündete von Peter Grimes gegen die Dorfgemeinschaft stellt. Sie schmiedet Pläne, ruft Sehnsüchte wach, weckt Hoffnungen, durchleidet Enttäuschungen. Der Ambitus ihrer Stimme - runde Tiefe und sanfte, schöne Höhe – macht alle zutiefst menschlichen Gefühle erfahrbar. Ein großartiges Rollenporträt.
Alexander Kalajdzic und die Bielefelder Philharmoniker füllen den Theaterraum wuchtig mit Brittens Klanggemälden, mitunter etwas zu wuchtig. Das Feine, Zerbrechliche geht da bisweilen etwas unter - zugunsten einer höchst spannungsvollen Dramatik.