Die Zeit ist ein sonderbar Ding
Es scheint, als sei dies eine anthropologische Grundkonstante: die Vorstellung, der Zeit enthoben zu sein, in die Zukunft schauen, die Vergangenheit bereisen und die Gegenwart revidieren zu können. Entgrenzung, die Überlagerung von Gestern, Heute und Morgen ist auch das Movens für das musiktheatralische Experiment namens Timeshift oder: Die Zeit ist ein Vogel. Neunzig dichte Minuten voller Musik, voller Bilder und räumlicher Eindrücke, gegliedert in sechs Szenen. Gefördert vom "Fonds Experimentelles Musiktheater". Gleich vorweg: das Ganze ist keine leichte Kost. Aber welches zeitgenössische Musiktheater ist das schon?
Timeshift aber macht es dem Rezipienten ziemlich schwer, eine klare Botschaft zu erkennen. Vier Protagonisten und ein Chor bestimmen die von Regisseurin Recha la Dous gestalteten Szenen, in denen Personal aus höchst unterschiedlichen Epochen der Weltgeschichte und -regionen zusammentreffen. Mitten im Theatersaal hängt außerdem eine riesige Projektionsfläche über dem Parkett, die Bühne ist ein schlichtes Halbrund, ausgekleidet mit weißem Tuch. Zwischendurch schwebt eine große geometrische Form vom Schnürboden, nachempfunden einer der putzigen Theaterlaternen an der Decke. Schattenspiele finden darin statt. Überhaupt prägen fließende Formen und mechanische Bewegungen die Optik, stilisierte Wolken, schlierige Substanzen flimmern über die Leinwände. Das ist nicht unbedingt das Innovativste, was die Videokunst zu bieten hat.
Und die Musik? Søren Nils Eichberg, Niels Klein, Vassos Nicolaou und Steingrimur Rohloff schöpfen aus einer ganzen Reihe von Klängen aus dem 20. Jahrhundert, von der Spätromantik bis hin zu Witold Lutoslawski, mal in sich versunken, mal knallhart rhythmisch, mal eisig erstarrt. Dirigentin Susanne Blumenthal organisiert das Ganze im Graben gemeinsam mit dem in großer Besetzung antretenden Sinfonieorchester Münster, Intermezzi kommen von einem Jazz-Trio.
Die Texte, unter anderem von Geibel, Rilke und Schiller, mögen eine enorme philosophische Tiefe haben. Schade, dass man sie, wenn überhaupt, nur sehr bruchstückhaft versteht. „Zeit ist, woraus ich bin“, „Morgen ist nicht heute“ sind ein paar zu identifizierende Versatzstücke, aus denen sich kaum ein zusammenhängender Sinn erschließt. Die Reflexionen über Sein und Zeit, die gefühlsmäßig eine Götterdämmerung lang vorüberziehen, laufen großenteils ins Leere. Insgesamt mag ein bemerkenswertes Konzept hinter dieser Produktion stehen, allein: es teilt sich nicht mit.
Hut ab vor der Leistung der vier Solisten Christine Graham, Lucie Ceralova, Youn-Seong Shim und Matteo Suk, auch vor der des Opernchores, von Donka Miteva und Karsten Sprenger präpariert. Man darf getrost davon ausgehen, dass Chor und Solisten alles richtig, gut und im Sinne der vier Komponisten gemacht haben.
Münsters Publikum zeigte sich bei der Premiere Anfang Dezember 2011 weitgehend offen für dieses Experiment. Mit Beifall jedenfalls geizte es nicht. Die Vorstellung am 29. Februar 2012 war zugleich Eröffnung des seit Jahren in schöner Regelmäßigkeit organisierten KlangZeitFestivals in Münster. Doch auch das zweite Erleben dieser Produktion brachte weder ein Mehr an Erkenntnis noch die Antwort auf die Frage, weshalb die Zeit eigentlich ein Vogel sein soll.