Politisiertes Oratorium
Dieser Elias ist ein Mann der Gegensätze. Ein ängstlicher Riese. Ein wütender Intellektueller. Ein charismatischer Sozialkrüppel. Einsam steht er im Zentrum der alttestamentarischen Geschehnisse, die in Jens-Daniel Herzogs Dortmunder Inszenierung wie eine Parabel daherkommen.
Die Zeit ist jetzt, der Ort irgendeine Diktatur, vielleicht im Orient. Der Herrscher hat die Staatsreligion gewechselt, die Konservativen rebellieren, in Gestalt des Elias. Das Volk ist wütend. Da taucht eine merkwürdige Organisation auf, Menschen in dunklen Overalls mit Emblem. Sie wollen mit Gewalt ihren Jahwe, ihren Gott zurück. Ihnen geht es um nationale Identität, ums Zusammengehören, indem man sich nach außen abgrenzt, ums Bewahren. Diese Aktivisten, irgendwo zwischen ETA, Taliban und Heilsarmee, singen mit den Stimmen von Mendelssohns Engeln. Am Ende der Auseinandersetzungen triumphieren sie: Elias geht fort, das Herrscherpaar beugt sich.
Zunächst scheint es, als wolle sich Mendelssohns wunderschöne Musik, die nur wenig dramatische Impulse anbietet, dieser radikal heutigen Umdeutung verweigern. Doch Engagement und Kompetenz aller Beteiligten und die Stimmigkeit der Bilder schaffen es schließlich doch, eine Verbindung herzustellen. Und der Zuschauer beginnt Einzelheiten wahrzunehmen. Wie sich die Medien der Macht unterordnen etwa, oder wie Sprache zu demagogischen Zwecken eingesetzt wird; diese alttestamentarische, pathetisch aufgeplusterte Naturmetaphorik von aufgehenden Sonnen und verlöschenden Fackeln, die in Diktaturen schon immer beliebt war – und es heute immer noch ist.
Mathis Neidhardt hat einen beeindruckenden Einheitsraum auf die Bühne gestellt, Arena, Plenarsaal und Börsenparkett in einem, in dem – auch und gerade technisch – einiges los ist. Die Kostüme von Verena Polkowski sind heutig und setzen vor allem das Volk aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammen, vom Underdog mit Irokesenschnitt, über Müllmann und Krankenschwester bis zur reichen Witwe.
Musikalisch ist die Aufführung ein absoluter Genuss. Motonori Kobayashi dirigiert einen wunderbar ausgewogenen Mendelssohn. Die Dortmunder Philharmoniker spielen locker und konzentriert, mit immer wieder besonders schön aufblühenden Holzbläserkantilenen. Der erweiterte Chor artikuliert klar, singt und spielt homogen und leidenschaftlich. Auch im Solistenensemble gibt es keinerlei Ausfälle. Ileana Mateescu muss die große Szene der Königin im Dominakostüm absolvieren, entschädigt dafür aber mit großer Bühnenpräsenz und ihrem kostbaren, dunkel glühenden Mezzosopran. John Zuckerman leiht Obadja, der Stimme der Vernunft, seinen schmalen, aber nobel geführten Tenor. Anke Briegel und – herausragend – Katharina Peetz singen die Stimmführer der Engelschar wunderbar auf Linie und rücken auch schauspielerisch immer wieder in den Mittelpunkt – als freudlose Opfer der eigenen politischen Leidenschaft. Julia Amos als Mutter des von Elias geheilten Kindes begeistert mit sehr sinnlichem Sopran und toller Textgestaltung. Das Kind selber, das samt seiner fast hündischen Liebe zu Elias zum Spielball der Medien und Ereignisse wird, wird von einem nicht namentlich genannten Solisten der Dortmunder Chorakademie diszipliniert gespielt und schön gesungen. Christian Sist schließlich gibt dem Elias nicht nur seine hünenhafte Gestalt und seine zu großer Sanftheit fähige Bassstimme mit, sondern fasziniert durch die sehr menschliche Ausformung eines differenzierten Charakters.
Das Publikum tobte vor Begeisterung, klang am Ende wie ein voll besetztes Festspielhaus und ließ die vielen leeren Plätze zumindest für den Moment vergessen.