In Schönheit ertrinken
Giacomo Puccinis Verismo-Drama La Bohème ist ein Renner im Opernrepertoire. Das traurig-schöne Geschehen um Liebe, Eifersucht und Tod geht immer. Vor allem, wenn es ohne gewaltsame Aktualisierung inszeniert wird. Eine Mimi als Hartz-IV-Problemfall, die Männerriege um Rodolfo als Ansammlung roher Saufkumpane oder Musetta in Gestalt einer Lack-und-Leder-Domina kommt nicht so gut. Eher schon sollte es eine leicht historisierte, üppig bebildert, gradlinig erzählte, schön gesungene und brillant musizierte Deutung sein.
So gesehen dürfte die Dortmunder Oper mit der von Katharina Thoma inszenierten und von Julia Müer ausgestatteten Bohème gute Karten haben, Zuschauer ins Haus zu locken. Die Premiere jedenfalls hat offensichtlich das Auditorium nicht verstört, sondern vielmehr berührt, entzückt, begeistert. Die Verortung der Geschichte in der Leichtigkeit des Belle-Epoque-Daseins, schön illustriert im Café-Momus-Bild, mit einem aufsteigenden Fesselballon als Symbol des Fortschrittsglaubens, ist nur einer der Gründe.
Passend dazu die karge Kammer des Intellektuellenquartetts Rodolfo, Schaunard, Marcello und Colline. Denn dieser rechteckige Kasten entpuppt sich als Fotoatelier, das eine altmodische, aufs Stativ gehobene Balgenkamera beherbergt. Zeichen für den Aufbruch in eine neue, technisierte Welt. Gleichzeitig aber, und darauf kommt es Katharina Thoma angeblich an, wird die Fotografie als Instrument einer Stilisierung gesehen. Der Künstler wirft sich in Pose. Und hinein bricht das wahre Leben, in Person der lungenkranken Mimi.
La Bohème ist eine Oper, die im Winter spielt, zur Weihnachtszeit. Sie ist vor kitschiger Bebilderung nicht immer gefeit. Doch Julia Müer verzichtet klug auf blendenden Lamettaglanz, lässt die Nikoläuse in der Ausstattungs-Mottenkiste. Ein weißes Tuch, das sich teils aufwölbt wie zu Schneebergen, ist der einzige Hinweis auf die Kälte, die Mimi den Tod bringen wird. In der Stube der Bohèmiens, traurig möbliert mit Öfchen, Tisch, Stühlen, Bildern und eben dieser Kamera, wird die junge Frau, auf einer Chaiselongue, ihr kurzes Leben aushauchen.
So schön das alles ist, so quirlig, poetisch und dramatisch, so glatt läuft alles an uns vorüber. Weder Geste noch Blick, die dem Zuschauer eine neue Sicht auf die Figuren zumuteten. Eher althergebrachtes Händeringen, Schmachten und Weinen. Seltsam, dass Katharina Thoma sich bei allem Engagement die Schärfung der Charaktere entgehen lässt. Gerade einem Opernschlachtschiff wie der Bohème hätte das gut getan.
Und so bleibt festzuhalten, dass trefflich, wenn auch nicht überragend gesungen wird. Denn Ani Yorentz als Mimi braucht Zeit, um ihrer Stimme glühende Leidenschaft zu entlocken. Ramé Lahaj gibt den Rodolfo mit schönem Legato und sauberen Höhen, die nur im leisen Tonfall wegbröseln. Zusammen mit seinen Kumpanen (Morgan Moody, Gerardo Garciacardo und Wen Wei Zhang) bildet er hingegen ein ausgewogenes Quartett. Tamara Weimerich schließlich, als Musetta eine Mischung aus fescher Lola und Colombina, ist zu sehr dem Soubrettenfach verhaftet.
Beachtlich vor allem der Schmelz im schlanken, transparenten Spiel der Dortmunder Philharmoniker mit Lancelot Fuhry am Pult. Gelegentlich aber, zum Leiden der Sänger, agieren sie in allem Überschwang zu laut. Bisweilen klappert es im Umgang mit den Chören, mitunter sind die Tempi unausgewogen.
Die Idee aber, das Künstlerdasein als Fassade darzustellen, als Lebenslüge, die von der Realität brutal enttarnt wird, kann die Regie nicht umsetzen. Der Verismo erstickt an der Schönheit seines Gegenstandes, in Form von Puccinis aufwühlender, berührender Musik.