Eine geschlossene Gesellschaft
Die hübsche Susannah steigt in den Fluss um zu baden. Nackt. Das hat sie an exakt dieser Stelle schon immer so gemacht. Nur diesmal ist sie nicht allein: ein paar Gaffer schauen, ohne dass sie es merkt, ihr beim Bade zu. Und entrüsten sich! Moral und Anstand seien in höchster Gefahr!
Man könnte Carlisle Floyds Oper Susannah als historisches Zeitdokument verstehen, als Ausdruck des Protestes gegen die McCarthy-Ära in den 1950er Jahren: die USA unter einem Mantel aus Blei. Doch wenn man ganz aktuell den ultrakonservativen Präsidentschaftskandidaten vom Format eines Rick Santorum zuhört, gewinnt Susannah eine fürchterliche Aktualität: noch mehr religiöser Fundamentalismus, noch verschärftere reaktionäre Ansichten über die Gesellschaft und deren Freiheit werden als Programm ausgegeben. Nicht zu unterschätzen der grassierende demagogische Einfluss der Medien.
Roman Hovenbitzer macht aus Susannah ein zeitloses Stück, wobei die Bewohner von New Hope Valley, dem Ort des Geschehens, ganz traditionell aussehen, wie eine Mischung aus rückwärtsgewandten Amish-People und evangelikaler Landbevölkerung mit nationalistischen Kokarden am Revers. Aber so denken und fühlen viele ja noch heute. Und glauben an einen verführerischen Teufel, ans Fegefeuer, hoffen auf Erlösung. Das wird ihnen von einem Prediger eingebimst, der sein Maul so weit aufreisst wie er seine Kasse offenhält - eine wie stets unheilige Allianz aus Gott und Mammon. Mit dem Evangelium als Drohbotschaft! Wer ausschert aus dem so unsäglich selbstgerechten Kollektiv, wird buchstäblich gnadenlos gejagt und fast bis in den Tod getrieben. Susannah ist kurz vor dem Selbstmord. Erst recht, als der ach so gottesfürchtige Prediger sie vergewaltigt – und ihr die Jungfräulichkeit raubt! Seine Bitte um Verzeihung wird von Susannah nicht gewährt, stattdessen durchsieben ihn die rächenden Kugeln aus dem Gewehr von Susannahs Bruder Sam Polk. Der Mob von der Straße reagiert seinerseits und fackelt Susannah ab, wie auf einem züngelnden Scheiterhaufen, wie eine Hexe. Um Schuld und Unschuld, Gerechtigkeit, gar Wahrheit geht es da schon längst nicht mehr.
Hovenbitzers Inszenierung erreicht mit ganz sparsamen Mitteln große emotionale Wirkung. Jan Bammes baut aus Euro-Paletten einen „neutralen“ Ort, mal Dorf, mal Haus, mal Kirche. Darin bewegen sich der formidable Opern- und Extrachor (Einstudierung: Wolfgang Müller-Salow), darin bewegen sich vor allem die großartigen Sängerinnen und Sänger. Jaclyn Bermudez ist als Susannah eine anrührende, in ihrem Leid, ihrer Wut und ihrer abgrundtiefen Verzweiflung zutiefst glaubwürdige Frau mit farbenreichem, kraftvollem Sopran, der aber auch in den lyrischen Passagen zu glänzen weiß; Rainer Zaun, kaum zufällig als Berlusconi-Kopie angelegt, macht aus dem lärmend predigenden Eiferer, dem das Volk zu Füßen liegt, eine wirklich fiese Figur – wie aus dem amerikanischen Fernsehen mit all seinen marktschreierischen „Geistlichen“. Charles Reid ist Susannahs Bruder Sam, immer besoffen, immer ein wenig um seine Schwester besorgt – und immer mit perfekt geführtem Tenor. Jeffery Krueger gibt den naiv-dümmlichen Verehrer Susannahs, der, wenn es darauf ankommt, sich auch eher dem Kollektiv unterordnet als seiner inneren Überzeugung zu folgen.
Hervorragend auch all die kleineren Rollen, die das Theater Hagen problemlos aus dem hauseigenen Ensemble heraus besetzen kann.
Carlisle Floyds Musik, zwischen Puccini und (guter) Hollywood-Filmmusik seiner Zeit angesiedelt, wird von Bernhard Steiner und dem Philharmonischen Orchester Hagen packend umgesetzt. Da changiert es klanglich zwischen säuselndem Sentiment und knalliger Attacke im Fortissimo.
Hagen setzt mit Floyds Susannah seine ambitionierte Reihe mit Inszenierungen amerikanischer Opern fort und verbucht mit dieser neuesten Produktion einen außerordentlichen Erfolg.