Übrigens …

La Grande Magia im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Wirklichkeit - Illusion?

Eine kleine hölzerne Kiste ist der Auslöser für Manfred Trojahns Oper La Grande Magia. Eine Kiste, in der Marta steckt - von Otto, einem längst abgehalfterten Zauberer dort hineingezaubert. Fünf, zehn, fünfzehn Minuten will und soll sie verschwinden, für ein heimliches Rendezvous mit Mariano, dem attraktiven Papparazzo. Doch es werden am Ende sieben Jahre gewesen sein, dass Marta abwesend ist.

Immerhin: sieben Jahre, in denen Marta ihren eigenen Lebensentwurf, den einer Sängerin verwirklichen kann: ein erfülltes Leben. Während der Rest der Sippe – Vater, Mutter, Onkel und so weiter... – eine Geschichte durchlebt, die merkwürdig changiert zwischen Komödie und Gruselstory. Grundtendenz: jede der Figuren flüchtet aus ihrer eigenen Realität, an erster Stelle Calogero, Martas Mann, der hinfort mit dieser Kiste sein „Idealbild“ einer Ehefrau neurotisch mit sich herumträgt. Traum statt Wirklichkeit. Die Zeit steht still, es ist keine Entwicklung mehr. Und deshalb, so Calogeros Überzeugung, brauche niemand mehr zu essen, könne auch niemand mehr sterben. „Der Zauber war doch nur ausgedacht für ein Abenteuer! Und das Abenteuer wurde mein Leben“ singt Marta, als sie ganz zum Schluss zurückkehrt zur kleinen hölzernen Kiste und ihrem Besitzer. Aber für diese Wahrheit hat Calogero keine Ohren mehr.

Man muss sich als Zuschauer und Zuhörer schon gut konzentrieren, um den Stoff, den Manfred Trojahn aus dem Schauspiel La Grande Magia von Eduardo de Filippo kondensiert hat, in all seinen Einzelheiten mitzubekommen. Vermutlich gelingt das auch gar nicht beim ersten Hören und Sehen. Gabriele Rechs Inszenierung liefert aber einen Weg zum tieferen Verständnis dank plastischer Bilder und einer Personenführung, die Gefühle und Beziehungen der Figuren untereinander ganz augenfällig werden lässt: hoffnungsvoll das dritte Bild, die kurze Liebesszene zwischen Marta und Mariano, anrührend das Sterben der von Krankheit gezeichneten Amelia im vierten Bild. Rech agiert mit großer Klarheit, Ruhe und Übersicht, verzichtet auf jede übertriebene Aktion. Das gibt dem Ensemble Raum und Gelegenheit, jeweils die ganz eigene Realitätsauffassung aus der Stimme heraus zu entwickeln.

Dieter Richters Bühne verströmt ebenso wie Renée Listerdals Kostüme das Gutbürgerliche, ja Mondäne eines Sanatoriums, in dem Sein und Schein durcheinander geraten – dies ein deutlich philosophischer Aspekt dieser Oper, die 2008 in Dresden ihre Uraufführung erlebte. Dass sie hier nun mit überschwänglichem Beifall aufgenommen wurde, liegt ganz zweifellos an der ausgezeichneten musikalischen Umsetzung. Dirigent Lutz Rademacher fächert die Partitur mit all ihren filigranen Strukturen und Farben leuchtend auf. Die Neue Philharmonie Westfalen in überschaubar großer Besetzung (vergleichbar der in Richard Strauss’ Ariadne) ist hellwach und absolut präsent.

Ganz entscheidend aber ist die Qualität der zwölf Solisten, vor allem die der Damen. Alfia Kamalova spielt nicht, sie ist die Sängerin Marta, der Manfred Trojahn einiges an virtuoser Stimmkunst abverlangt. Sylvia Koke gibt überzeugend ihre Schwägerin Rosa, die vergeblich auf sinnliche Abwechslung hofft. Alexandra Lubchansky berührt zutiefst als sterbende Amelia mit ihrem reinen, geradezu „unschuldigen“ Sopran. William Saetre ist der verängstigte Assitent, Noriko Ogawa-Yatake, Urgestein im Gelsenkirchener Ensemble, die selbstbewusste Frau des Zauberers Otto. Den singt ganz großartig Urban Malmberg, der schon bei der Dresdener Uraufführung mit dabei war. Calogero ist Daniel Magdal, der mit seinem großen Tenor herrisch seine „Wahrheit“ von Zeit und Raum behauptet.

Dafür, dass kein Charakter der Familie di Spelta in der Darstellung zu kurz kommt sorgen Christa Platzer als scheinheilige Matilde und Pjotr Prochera als deren Schwager Marcello mit seinem edlen Bariton. Auffahrend als Möchtegern-Politiker: Lars-Oliver Rühl; grell als armer Verwandter: E. Mark Murphy. Aufhorchen lässt Sejong Chang, Mitglied des „Jungen Ensembles“ am Musiktheater im Revier. Mit klarer Diktion und rundem, noblem Bass überzeugt er sängerisch, aber auch darstellerisch als Papparazzo Mariano.

Insgesamt eine großartige Leistung aller Akteure, die sich nicht nur individuell profilieren konnten, sondern vor allem im Zusammenspiel einen in jeder Hinsicht bemerkenswerten Opernabend gestalten.