Die Fußnote als Melodrama als Tragödie
Im Rahmen des türkischen Schwerpunktes der Musiktheatersparte der Wuppertaler Bühnen haben sich der renommierte Schriftsteller Feridun Zaimoglu und sein deutscher Co-Autor Günter Senkel einen ganz und gar „untürkischen“ Stoff ausgesucht.
Am 9. Mai 1849 fand in Elberfeld eine Miniaturrevolution statt. Arbeiter verwüsteten das Haus des Bürgermeisters, es wurden ein paar Barrikaden errichtet und fünf Menschen starben, darunter ein preußischer Offizier. Weiter gehende politische Wirkungen hatte der Aufstand nicht.
Zaimoglu und Senkel habe eine Figurenkonstellation erfunden, die, in der sehr plastischen Vermittlung dieser durch die zeitliche Distanz geradezu ulkig anmutenden historischen Fußnote, alle gesellschaftlichen Gruppen raffiniert miteinander verbindet. Zwei Töchter eines Tuchfabrikanten, der mit dem Bürgermeister befreundet ist, lieben die „falschen“ Männer: die brave Susanne den revolutionären Arbeiter, die „rote Graziella“ den preußischen Offizier. Der Arbeiter erschießt den Offizier und muss alleine fliehen, auch die Schwestern sind am Ende tot. Shakespearesche Dimensionen aufs Kammermelodram heruntergebrochen, das konzentrierte Skelett einer Historientragödie.
Der junge, türkische Komponist Enver Yalcin Özdiker hat dazu eine Theatermusik geschrieben, die unter der Leitung von Tobias Deutschmann von Beginn an große Sogwirkung entwickelt. Aus mehr oder weniger robusten Klangflächen lösen sich immer wieder kommentierend Flöte, Klarinette und Percussions-Instrumente.
Die Inszenierung von Schauspielintendant Christian von Treskow beginnt streng. Das Ensemble sitzt in dunklen, am Historischen orientierten, stilisierten Kostümen hinter Tischen. Behutsam, über Blicke und kleine Gesten, erst spät über Bilder, werden Charaktere entwickelt. Die Intensität steigert sich über neunzig Minuten bis zur finalen – und sehr blutigen - Konfrontation der Schwestern. Genau in der Mitte des Stückes glänzt der genau choreographierte Schauspieler Philipp Alfons Heitmann in einer elektronisch unterlegten Einlegeszene als Friedrich Engels. Er zeigt ihn als eleganten Fanatiker, fast als geistigen Dandy, der sich auf keinen Fall die Hände schmutzig machen will.
Die Aufgabe für die Sänger ist extrem anspruchsvoll, werden doch nur vergleichsweise wenige Passagen gesungen. Nur in Momenten höchster Leidenschaft und zur Markierung der Aushöhlung von Sprache durch Pathos und Floskeln hat Enver Yalcin Özdiker Gesangsnoten geschrieben. Ansonsten wird gesprochen, was das Wuppertaler Ensemble ganz selbstverständlich bewältigt, als hätte es nie etwas anderes getan. Annika Boos und Rolf A. Scheider machen viel aus den kleinen Rollen von Dienstmädchen und Bürgermeister. Marek Reichert zeichnet den preußischen Offizier differenziert mit warmem Bariton, Christian Sturm seinen Arbeiter-Gegenspieler mit organisch geführtem Tenor, der durchaus zu Schärfen fähig ist. Im Laufe des Abends mischt Olaf Haye als Fabrikant seinem klaren, lyrischen Bariton zunehmend Trauerfarben bei, wirkt am Ende fast wie ein bürgerlicher König Marke. Im Mittelpunkt von Text und Komposition stehen die beiden Schwestern. Kristina Staneks Graziella bewegt durch einen versammelten, vor unterdrückter Wut oft zitternden Seelenton, Dorothea Brandt ist ganz hemmungslose, verliebte Seele. Ihre verzweifelten Aufschreie gehen durch Mark und Bein wie wenig auf der Opernbühne.
Der starke lokale Aspekt des Sujets wird einer weiteren Verbreitung dieser qualitätvollen und wirkungsmächtigen Kammeroper vermutlich im Wege stehen. Dies ist bereits jetzt zu bedauern.