Drama, Zirkus und Science fiction
Alfred Jarry hatte ein kurzes Leben. Doch aufregend und inhaltsreich war sein irdenes Dasein allemal. Der französische Schriftsteller wurde 1873 als Sohn bretonischer Eltern geboren und starb 1907 in Paris. Dazwischen lag ein abgebrochenes Philologiestudium, eine Bohème-Existenz, oder seit 1896 die Arbeit als Sekretär in genau jenem Theater, das mit der Uraufführung von Jarrys König Ubu einen ungeheuren Skandal produzierte. Das groteske Stück mit seiner teils derben Sprache wurde von der bürgerlichen Presse verrissen. Der Autor verfiel mehr und mehr dem Alkohol.
Nach seinem Tod aber wurde er von vielen als Bürgerschreck und schrulliger Einzelgänger zum Mythos erhoben. Jarry, der von H.G. Wells’ Roman Time Machine inspiriert selbst eine Zeitmaschine baute, der mit Ubu die konventionelle Aufführungspraxis sprengen wollte, galt und gilt schließlich als wichtiger Vorläufer des Dadaismus und absurden Theaters. Und nicht zuletzt hat das skurrile Stück Eingang in die Gattung Oper gefunden.
Franz Hummel schrieb 1984 einen König Übü, Krzysztof Penderecki einige Jahre später Ubu rex, und bereits 1966 komponierte Bernd Alois Zimmermann ein Ballett über den Stoff, dessen Musik er zwei Jahre später zum Konzertstück formte. Das jüngste Werk aber stammt von dem Amerikaner Sidney Corbett. Seine Oper Ubu, mit dem Libretto von Simone Homem de Mello, hat nun das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier uraufgeführt.
Corbett ist von Haus aus Gitarrist, pendelt in seinem Schaffen und Spielen zwischen elektronischer und „klassischer“ neuer Musik. Zwei Jahre lang war er Schüler György Ligetis in Hamburg. Im Ubu ist der Klang indes rein sinfonisch, die Orchestrierung überwiegend konventionell. Corbett spielt mit Zitaten, die etwa auf Bartók, Berg oder Jimi Hendrix verweisen, doch das Erkennen ist schwierig in einer komplexen Partitur, die sich im übrigen mehr und mehr in Repetitionsmotivik und krachendem Schlagwerk-Ostinato erschöpft. Nach fünf Akten, die in nur 75 Minuten über die Bühne gehen, ist eine gewisse tönende Zähigkeit nicht von der Hand zu weisen, trotz aller originellen Klangflächen zu Beginn.
Andererseits lebt das Stück, ein Auftragswerk des MiR-Jugendorchesters und Gelsenkirchener Kinderchores, von quirliger Aktion. Regisseur Alexander von Pfeil hat offensichtlich vieles von dem hineingepresst, was Jarrys Leben und Sinnen umfasste. Die Inszenierung gestattet sich nämlich den Kunstgriff, ins grob-skurrile Drama eine Science-Fiction-Ebene einzuziehen.
Zwei Astronauten, in einer Zeitmaschine (!) unterwegs, oft über den Sinn von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft philosophierend, erleben den Aufstieg, Fall und erneuten Optimismus des fetten, feigen, vulgären Ubu, der von seiner machtgierigen, keifenden Gattin dazu gebracht wird, den polnischen König zu ermorden. Selbst auf dem Throne sitzend, führt Ubu das Blutbad fort – nun muss der Adel dran glauben. Macht- und Geldgier sind des neuen Herrschers Antriebskräfte, es kommt zum Krieg, doch letztlich kann sich der Mörder retten. Den Astronauten wird ob ihrer Beobachtungen Angst und Bange.
Der Regie indes reicht es damit noch nicht. Denn Ubu kommt hier als dummer August daher, seine Frau als Weißclown – das klassische Zirkuspaar, hier ein Duo infernale. Die Astronauten wiederum lesen aus Shakespeares Dramen – Jarry verstand seinen Ubu durchaus als Parodie auf Figuren wie Macbeth, Titus oder König Lear. Schließlich der Chor: Katharina Gault hat für die Kinder Kostüme geschneidert, die auf ganz unterschiedliche Zeitalter verweisen. Da gibt es Kleider im elisabethanischen Stil, jemand trägt eine uralte Taucheruniform, andere sind ebenfalls Clowns. Der Chor pflegt im übrigen die Tradition des Akklamierens und Kommentierens.
Solcherart Vielfalt und Impulsivität, das turbulente Treiben in einem nach vorn offenen Raumschiff-Kubus sowie im gesamten Zuschauerraum, muss erst einmal verdaut werden. Immerhin verkneift sich die Regie plakative Blutbäder. Fast liebevoll geht sie zudem mit den Figuren um, spürt seelische Regungen auf, wo Jarry eigentlich holzschnittartige Typisierung verlangt.
Das mag auch dem Komponisten Corbett geschuldet sein. Der in der Führung der Stimmen ebenfalls Charaktere formt, allen Raum lässt für lyrische Emphase, dramatische Ausbrüche oder rezitativisches Parlando. Das ist mehr als musikalisch-artistischer Selbstzweck.
Dem werden Irina Simmes und Hongjae Lim als zeitreisendes Paar ebenso aufs schönste gerecht wie Michael Dahmen und Almuth Herbst (das Ehepaar Ubu). Der Gelsenkirchener Kinderchor wiederum fasziniert durch ein klares Klangbild. Präzision liegt schließlich in der Zeichengebung des Dirigenten Clemens Jüngling, der MiR-Jugendorchester und Neue Philharmonie Westfalen sicher durch die komplexe Partitur führt.
So erleben wir pralles Theater, das jedoch zu viel will. Unterhalten, schockieren, ein Diskursfeld sein für wissenschaftliche Erörterungen, Projektionsfläche darstellen um der klassischen Bildung willen. Ubu, eine Mischung aus Zirkus, Drama und Science Fiction.