Übrigens …

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte im Prinz Regent Theater Bochum

Musik als Lebenshilfe

Es sind die Perlen im Bochumer Kulturleben, kleine, funkelnde Theater-Miniaturen, die abseits vom handelsüblichen Musiktheaterbetrieb inzwischen ein bemerkenswertes Eigenleben entwickelt haben: die Kooperationen zwischen dem Prinz Regent Theater und den Bochumer Symphonikern. Auf die Doppelabende Das Behr-Kyrsh-Projekt/Die Geschichte vom Soldaten und Der Kaffee-Kantate/La serva pardona sowie der Wagner-Groteske Mein lieber Schwan folgte in der Saison 2012/2013 mit der Nyman-Oper Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte das bisher gewagteste und interessanteste Projekt dieser Reihe.

Michael Nymans Kammeroper wurde 1986 in London uraufgeführt. Als Basis dient die erste Fallgeschichte aus Oliver Sacks’ gleichnamigem Bestseller, der 1985 in New York erschien. Sacks, Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University, beschreibt in ihr das Schicksal des Sängers und Musikprofessors Dr. P. Durch eine sogenannte visuelle Agnosie verliert Dr. P. die Fähigkeit, Gegenstände und Personen, die ihn umgeben, ihrer Eigenart und Bestimmung entsprechend zu erkennen. So wird eine Rose plötzlich zu einem „gefalteten Gebilde mit geraden grünen Anhängern“ und der Kopf seiner Gattin zu einem Hut. Trotzdem findet Dr. P. sich weiterhin der Welt zurecht. Sacks findet auch heraus, warum: Die Musik, die Dr. P. einen Leben lang begleitete, gibt ihm nun, da er die Welt nicht mehr mit Bildern ordnen kann, Halt und Orientierung.

Nyman findet für diese komplexe wie emotionale Geschichte eine ebensolche Musik. Einerseits besitzt sie die verschachtelten, vibrierenden Rhythmen, wie sie typisch für Nymans Kompositionen sind. Andererseits kann sie einen ausgesprochen romantischen Ton nicht verleugnen. Wie tief diese Musik im 19. Jahrhundert verwurzelt ist, zeigt sich spätestens in dem Moment, als Dr. P. „Ich grolle nicht“ aus Robert Schumanns Liederzyklus Dichterliebe im Original singt – und sich das Lied perfekt in die Klangwelt der Oper einfügt. Zu Nymans Musik passt auch der große Projektionswürfel, der an der Decke des Prinz Regent Theaters schwebt und die Szenerie entweder durch konkrete Bilder ergänzt oder aber die pulsierenden Strukturen der Musik mit Videoanimationen sinnfällig unterstreicht.

Der Regisseurin Sibylle Broll-Pape steht mit Patrick Ruyters (Dr. P.), Meike Albers (Mrs. P.) und Joan Ribalta (Dr. S.) ein auffallend junges und agiles Sänger-Trio zur Seite, das sie unaufdringlich, aber nicht unauffällig im Raum inszeniert. Patrick Ruyters zeichnet mit warmem und kraftvollem Bariton das berührende Portrait eines Mannes, der merkt, das ihm sein Verstand entgleitet, obwohl er sich eigentlich doch ganz bei Kräften fühlt. Die Sopranistin Meike Albers spiegelt in ihrer flexiblen Stimme von Zuversicht über ängstliche Ratlosigkeit bis hin zu ohnmächtiger Wut ein ganzes Gefühls-Kaleidoskop. Die scharfen Attacken, die sie als kämpferische Gattin gegen die Diagnosen des Arztes führt, gehen unter die Haut. Der spanische Tenor Joan Ribalta wiederum trifft geschickt den leicht distanzierten, doch mitfühlenden Ton, der seiner Rolle als Erzähler, Beobachter und Kommentator gerecht wird.

Der Dirigent Harry Curtis hält sorgsam die Balance zwischen Sängern und dem Kammerensemble der Bochumer Symphoniker, die direkt mit auf der Bühne sitzen. Zwar kann er nicht verhindern, dass dem Orchester Nymans engmaschig gewebter Klangteppich an der einen oder anderen Stelle ausfranst. Doch hält er den Spannungsbogen mit feinem Gespür für die jeweils notwendige, dynamische Nachjustierung den ganzen Abend über aufrecht. „Ich glaube: Die Musik ersetzte für ihn das Erleben von Bildern“, sagt Dr. S. zum Schluss. „Er hatte kein Körperbild mehr. Er hatte Körpermusik. Und von dieser Musik dirigiert fand er sich in allem zurecht. Ganz sicher. Geschmeidig. Und hörte die Musik auf – dann tat er das auch...” Die Musik flackert ein letztes Mal, dann erlischt der Klang nach und nach im Raum – und Dr. P.’s Kopf kippt zur Seite. Stille. Ein leises, doch lange nachhallendes Ende.