Tod im Lungensanatorium
Da siecht die gute Violetta Valéry im Lungenheilsanatorium des Dottore Grenvil dahin, der soeben deren Freundin Annina über das baldige Ableben der Patientin verständigt hat. Gelegenheit für die Todgeweihte, im Rückblick noch einmal die unglückliche Liebe zu Alfredo Revue passieren zu lassen.
Das ist ein interessanter Ansatz, den Josef Ernst Köpplinger für seine Interpretation der Traviata wählt. Leider bleibt Köpplinger, der designierte Intendant des Gärtnerplatztheaters in München dabei auch stehen und entwickelt daraus keine neue Sicht auf Figuren und Handlungszusammenhänge.
In Johannes Leiackers wuchtigem Jugendstil-Sanatorium entfaltet Köpplinger eine seltsam barocke Bilderflut, die eher von der Lust an der Opulenz inspiriert scheint denn vom Gedanken an eine Interpretation des Stoffes. Da tummeln sich Ballett tanzende Stiere, deren Kampf von Karl Alfred Schreiner choreografiert wurde, und Operettenzigeuner in stilechten Kostümen von Alfred Mayerhofer. Und die Dekadenz der ganzen feierwütigen Gesellschaft wird durch ständige Kopulation auf der Bühne versinnbildlicht. Schade für den Betrachter ist, dass sich immer dieselben beiden Herren aus- und anziehen müssen und die gleichen Damen beglücken. Das wirkt eher wie ein Aufruf zur Monogamie. Und wenn Köpplinger meint, mit zwei nackten Männern auf der Essener Bühne provozieren zu können, hat er sich schlicht geirrt. So stirbt Violetta auch hier ganz konventionell in den Armen von Alfredo, weil das Regieteam große Erwartungen leider nicht einlösen kann.
Charme hat die leicht gekürzte – knapp zweistündige – Fassung, die hier ohne Pause gespielt wird. Sie unterstreicht die Stringenz der Handlung und auch die Szenenwechsel werden in Leiackers Einheitsbühnenbild mit wenigen Requisiten gekonnt umgesetzt. Beeindruckend in Köpplingers Deutung auch die Konsequenz, mit der er den Giorgio Germont als kapitalistischen Fiesling deutet, der sogar an Violettas Sterbebett keine Reue zeigt, sondern eiskalt einen kompromittierenden Brief verschwinden lässt. Im Gegensatz dazu erfüllen die beiden Liebenden mehr oder weniger alle Klischees.
Insgesamt bietet die Inszenierung wenige eindringliche Momente, sondern plätschert in üppig gestellten Bildern dahin.
Im Orchestergraben gelingt es Stefan Soltesz dagegen jederzeit neue Spannungsbögen aufzubauen. Wie die Essener Philharmoniker diese Traviata förmlich zelebrieren, das ist eine Meisterleistung. Da wird ganz fein gearbeitet und an keiner Stelle erschlagen Verdi-Klangwuchten. Das ist alles wie ein fein gewobener Teppich und eigentlich die ideale Grundlage für das singende Personal. Das konnte diese Vorlage aber nur teilweise wirklich nutzen.
Hervorragend aufgestellt wieder Alexander Eberles Chor, der in der großen Massenszenen voll zu überzeugen weiß. Dass das Essener Ensemble auch eine ganze Vielzahl kleiner Rollen aus den eigenen Reihen gut besetzen kann, beweisen die Herren Rainer Maria Röhr, Mateusz Kabala, Marcel Rosca, Michael Haag, René Aguilar, Michael Kunze und Arman Manukyan zur Genüge. Und mit Francisca Devos und Marion Thienel sind Flora und Annina mehr als adäquat besetzt.
Felipe Rojas Velozo badet seinen Tenor geradezu im Verdi-Schmelz, hat aber entschiedene Probleme im Piano und kann deshalb auch nur ein sehr eindimensionales Rollenportrait des Alfredo zeichnen. Das gilt in gewisser Weise auch für Liana Aleksanyan in der Titelpartie. Ihr gelingt ein wunderschönes „Addio, del passato“, aber auch sie fühlt sich offensichtlich nur im Forte wohl und singt mit viel Vibrato. Deshalb gehen viele lyrische Passagen schlichtweg unter.
Aber einen gesanglichen Höhepunkt gibt es dennoch. Aris Argiris überzeugt voll und ganz als Giorgio Germont. Mit seinem großen, volltönendem Bariton und seiner Bühnenpräsenz macht er die ganze charakterliche Kälte des unsympathischen Geschäftsmanns erfahrbar und zeigt mit seiner flexiblen Stimme das ganze Repertoire zwischen Locken und Drohen, um den Sohn zur Rückkehr zu bewegen.
Das Publikum feiert Sänger und Orchester mit fein abgestuftem Beifall und bedenkt das Regieteam um Josef Ernst Köpplinger mit kurzem, aber freundlichem Applaus.