Die Lösung: der Tod
Er liebte die großen Themen – und mit dem einen Hit aus der Weltliteratur endete seine Karriere als Opernkomponist: Charles Gounod schrieb 1867 nach Shakespeare den bittersüßen Hymnus auf die „ewige“ Liebe von „Romeo und Julia“. Zuvor lieferte er für die Opera-lyrique bereits Stücke wie Margarethe, Mireille oder Königin von Saba. Auch in der Version von Barbier/Carré sterben die beiden jungen Leute, die vom Hass der Elterngeneration ins Grab getrieben werden und die Gesetze der feindlichen Rituale nicht verstehen können. Die Librettisten hielten sich weitgehend an den englischen Tragiker. In Münster bemühte sich Igor Folwill in seiner Deutung des populären Stoffes um Modernität. Manfred Kaderks Bühne – eine Schräge, davor eine Drehbühne, auf der die Rotation um die immerwährende „love story“ ohne Happy End stattfindet – dient einer totalen Reduktion, in der das Licht gleißende Lebenssituationen „malt“; Ute Frühlings Kostüme zielen auf die Gegenwart, nur Julia darf sich ein wenig Romantik-Mode bei den Kleidern leisten, merkwürdig in diesem Zusammenhang nur die Sieb-Masken auf dem Capulet-Ball; der Klang des münsterschen Sinfonieorchesters unter Leitung von Hendrik Vestmann vermeidet sentimentale oder gar schnulzige Ausbrüche, so wirkt die Partitur des Franzosen bei aller melodieseligen Haltung brüchig, todesnah und ohne peitschende, überzeichnende Dramatik. Mit dem Ouvertüreneinstieg des Chores wird die Atmosphäre eines opernhaften Requiems heraufbeschworen.
Und wo bleiben die Figuren – beweisen ihre Charaktere zeitgenössische und zeitgemäße Stimmigkeit? Nein, bis auf die Juliette von Henrike Jacob, die mit ihren Koloraturen imponiert und die großen Gefühle ihrer Partie austanzt, aussingt und leidend ausgestaltet, wirken die Vertreter der beiden verhassten Veroneser Familien – von Vater Capulet (Olaf Plassa) über Tybalt (Jeon-Kon Choi) bis zu Paris (Thomas Mayr) oder Mercutio (Roman Grübner) – eher wie Marionetten im bitteren Theaterschach als denn blut- und glutvolle Repräsentanten einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung, bei der die Jungen das tödliche Nachsehen haben. Igor Folwill gelang es nur in wenigen Momenten, das Ensemble so herauszufordern und zu stimulieren, dass das Publikum die Ausmaße dieser menschlichen, familiären Katastrophe der Intoleranz erschüttern könnte. Meine Nachbarin im Parkett gähnte das erste Mal nach etwa einer Viertelstunde, das zweite Mal kurz vor der Pause, das dritte Mal vor dem Szenario des Sterbens. So konnte es einem gehen… Beim Gesang von Henrike Jacob, die sich als Juliette vom flatterhaft naiven Mädchen zur Frau mit Leidens-Appeal wandelt, versagte jedoch die gefährliche Nähe zur Langeweile. Hätte die Dame vielleicht mehr auf die Musik und die Intensität des Orchesters geachtet, wäre sie vielleicht gar nicht bereit gewesen, von ihrem Platz aus dem Geschehen manchmal zuzugähnen.
Neben Henrike Jacob, die lyrische und belkantistische Qualitäten einbrachte, konnten auch Youn-Seong Shin als Romeo und Plamen Hidjov als Bruder Laurent vokal überzeugen. Sie warteten mit leicht geführtem Tenor beziehungsweise mit dunkel eingefärbtem Bass auf. Aber auch sie blieben als ernste Mitgestalter der Shakespeareschen Todesspirale einiges an darstellerischem Gewicht schuldig. Die Konturen blieben insgesamt weich gezeichnet – ohne die unerbittliche Genauigkeit des Tragischen.
Nach der Devise „Nur der Tod bringt eine Lösung des Konflikts“ rollte die Einstudierung zielbewusst ab. Bei Vestmanns Dirigat loderte schon früh die Glut tragischer Schicksalhaftigkeit auf, in der Folwillschen Sicht verdämmerte sie allerdings wieder schnell im Szenischen. Doch wir kennen ja das Gesetz der Oper: Nirgendwo wird so ästhetisch und „schön“ gestorben wie hier. Das galt auch für diese Hommage an Charles Gounod und die Liebenden von Münster. Das nicht ausverkaufte Haus feierte die Protagonisten und Dirigent/Orchester generös.