Viva la liberta
Heftiges Klopfen an der Schlosstür im stürmischen Gewitter - und herein kommt ein junges Paar. Das kennt man, und meist sind vorher schon reichlich Wasserpistolen abgefeuert und Papierhütchen gegen den Regen gebastelt worden. Doch es ist nicht die Rocky Horror Show, die hier beginnt, sondern Mozarts Don Giovanni. Statt Brad Majors und Janet Weiss betreten Masetto und Zerlina den Ort des Geschehens.
Und damit ist schon ein Strang des komplexen Interpretationsansatzes Karoline Grubers ausgebreitet. Wie Frank’n’Furter zeigt auch Don Giovanni seinen „Gästen“, dass ihr Leben auch anders verlaufen könnte, zeigt ihnen libertäres Gedankengut, zeigt ihnen, dass es möglich ist aus Konventionen auszubrechen.
Gruber lotet dabei den Don Giovanni in seiner ganzen Tiefe aus. Sie sieht den Titelhelden weniger als Figur, denn als Idee für Befreiung, ja Revolution. „Viva la liberta“ wird zur zentralen Aussage dieses Don Giovanni
Das gilt für Anna, die, in eine Krinoline des 19. Jahrhunderts gewandet, sich aus ihrem reglementierten Alltag zu befreien versucht. Sie ist ganz klar die Verführerin, die, um ihre Unschuld zu beweisen, die Ermordung ihres Vaters hinnimmt. Und das gilt für Elvira, die Don Giovanni zur bürgerlichen Ehe erpressen will. Sie muss schlussendlich erkennen, dass gegen Freiheitswillen keine gesetzlich verorteten Ketten helfen. Elvira stammt eher aus dem 18. Jahrhundert, Zerlina und Masetto dagegen sind Gegenwartsmenschen, die erfahren, dass es die eine und unzerstörbare Beziehung nicht gibt. Don Giovanni aber ist als Idee in allen Epochen zu Hause, in denen Menschen um individuelle und gesellschaftliche Freiheit kämpfen.
Doch Grubers Deutung geht tiefer. Ganz hervorragend leuchtet sie die Individualität der Figuren Mozarts aus – immer gespiegelt in den Sehnsüchten, die sie Don Giovanni gegenüber offenbaren. Das ist schön an Masetto und Zerlina zu sehen, deren konservatives Welt- und Rollenbild zerbricht, die Fantasien und Gedanken in sich entdecken, die sie nie für möglich gehalten haben. So täuscht Masetto einen Angriff Don Giovannis nur vor, um homoerotische Wünsche nicht offenbaren zu müssen. Oder Leporello, der revolutionären Gedanken verfallen ist, für sie gefoltert wurde, aber dennoch nicht vom Aufbegehren loskommt. Dann die Angst und der Schrecken, wenn alle auf dem Ball unter Masken beginnen ihr Leben zu verändern und dann beim Abnehmen der Masken vor sich selbst erschrecken.
Roy Spahn hat für diese Inszenierung die perfekte Bühne gebaut, vorn ein Saal mit festlich gedecktem Tisch. Toll auch die Verdopplung des Saales nach hinten, so dass mehrere Handlungsebenen am gleichen Ort gezeigt werden können. Und dann gibt es einen langen Flur mit vielen Türen, versehen mit Zimmernummern, die verschiedenen Revolutionsjahren entsprechen und durch die Don Giovanni verschwindet (in der Geschichte der Freiheitsbewegungen?) Ebenso kommen aus diesen Türen die Opfer der Aufstände und Kämpfe heraus. Mechthild Seipels Kostüme für diese Untoten sind ein Höhepunkt. Komplett in Weiß, sind sie höchst individuell gestaltet, so dass das Hinschauen eine Freude ist.
In diesem absolut durchdachten Don Giovanni gäbe es viele Einzelheiten zu beschreiben. Und hier liegt auch der klitzekleine Wermutstropfen: Einiges, so etwa die Funktion des Böcklin-Gemäldes „Odysseus und Kalypso“ als Hintergrund erschließt sich nur mit Hilfe des Programmhefts. Das ist bei einem in den größten Teilen so plastisch umgesetzten Regiekonzept dann schade.
Furios und konsequent das Ende. An Don Giovannis Tafel beginnen die Handelnden sich zu verwandeln und Freiheit zu genießen - bis auf Elvira, die zu stark in Konventionen verhaftet ist. Dann bricht der Komtur in Gestalt eines Zombies im Bischofsgewand ein, vernichtet Don Giovanni und zwingt alle zur Buße. Doch die Saat des Freiheitswillens ist gelegt. Don Giovanni hat als Gedanke überlebt und alle werden weiter versuchen, sich zu befreien.
Mit der Qualität der Regiearbeit kann die sängerische nicht durchweg mithalten. Gerhard Michalskis Chor meistert seine Aufgabe gekonnt und Roman Polisadovs Komtur erschüttert bis ins Mark. Aufhorchen ließen sowohl Alma Sadé als Zerlina mit ausgesprochen beweglichem, klangschönem Sopran und toller Bühnenpräsenz als auch Torben Jürgens als Masetto, der seinen runden, vollen Bariton verströmt. Auch Adam Palka ist als Leporello ganz großartig, singt sehr pointiert, exakt und mit wunderbarem Timbre. Olesya Golovneva überzeugt als Anna erst in ihrer anrührend gestalteten Arie „Crudele, ah non“, zu Beginn ihrer Partie aber wirkt sie noch etwas flatterhaft, während Natalia Kovalova für ihre Elvira einen etwas eckigen und kantigen Sopran aufbietet, auch nicht ganz frei ist von Intonationsproblemen. Die hat auch Corby Welch als Ottavio, besonders zum Ende hin. Laimonas Pautienius in der Titelrolle könnte ein Mehr an Selbstbewusstsein mobilisieren, seinem Bariton freien Lauf lassen. Er singt eine schöne und intim gestaltete Kanzone, bleibt aber insgesamt etwas uncharakteristisch und setzt kaum Höhepunkte.
Die Duisburger Philharmoniker dagegen liefern tadellosen Mozart-Klang und verlieren nie die Spannung, wenngleich Dirigent Friedemann Layer oft reduzierte Tempi anschlägt. Außergewöhnlich gelungen: seine Detailarbeit an den Orchesterfarben. Da war manches zu hören, was andernorts (oder auf Tonkonserven) schlichtweg untergeht.
Regisseurin Karoline Gruber konnte den Premierenabend krankheitsbedingt nicht miterleben. Ihr und ihrem Regieteam, so weit darf man mit gutem Grund spekulieren, wären etliche „Bravi“ zugeflogen!