Übrigens …

Europeras 1 & 2 im Bochum, Jahrhunderthalle

Nicht Sinn - Sinnlichkeit

Jeder, der viel in die Oper geht, kennt es: Das Bühnenbild, dass sich darin erschöpft, Bilder für das zu finden, was Text und Musik sowieso anbieten; Kostüme, die den Charakter der Figur verdoppeln; Sängergesten, die Schlimmeres tun. Von solchen Unarten wollte John Cage, mit dessen Werken das „Musiktheater“ begann, sich von der Oper an sich abzugrenzen, mit seinen 1987 in Frankfurt uraufgeführten Europeras 1 & 2 das Kunstgenre befreien, wieder Platz machen für die sinnliche und emotionale Kraft des Gesanges.

Heiner Goebbels folgt dem Komponisten bei seiner Eröffnungsinszenierung der ersten von ihm verantworteten Ruhrtriennale sehr weitgehend. Sinnenfrohes Theater läuft da ab auf der, im ersten Teil, 90 Meter tiefen, unverkleideten Bühne, etliche schöne Einzelheiten, die sich nie zu einem Brei sinnlicher Überforderung verquirlen sondern den Blick freimachen fürs optische, fürs akustische Detail. Wie schön etwa, vor allem wie menschlich und tiefgründig klingt die Gesangslinie des Eremiten aus Webers Freischütz, wenn sie der sie in der Oper wie einen Panzer umgebenden Bläserakkorde entkleidet wird? Das ist hier Prinzip. Die – unsichtbaren – Musiker spielen nicht, was die zehn Sänger aus zehn europäischen Ländern singen. Auch die Kostüme passen nicht zum Gesang, genauso wenig wie die von Klaus Grünberg aufgefundenen und minuziös nachempfundenen Bühnenbilder aus vier Jahrhunderten, vom putzigen Seeungeheuer über einen 1847 für Oberon gebauten Urwald, in dem man heute eine Kinderaufführung vom Dschungelbuch spielen könnte – seilt sich deshalb ein niedliches Plüschäffchen ab? – bis zum neoklassisch edel reduzierten Faltenwurf aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Alles steht für sich und alles ist zu sehen, jeder Umbau, selbst jedes Umschminken. Über 50 kundige „Assistenten“ stehen den zehn Sängern aus zehn europäischen Nationen, unter ihnen so renommierte Künstler wie Asmik Grigorian, Liliana Nikiteanu und Frode Olsen, zur Seite. Alle bewältigen die musikalisch und darstellerisch hoch anspruchsvollen Aufgaben. Besonders begeistern der irische Tenor Robin Tritschler und der zu Beginn als Queen Elizabeth I. gewandete Bassist Paolo Battaglia.

Diese Europeras sind beileibe kein Wunschkonzert. Die Arienauswahl, die sich, von Cage vorgeschrieben, nach dem Repertoire der Sänger richtet, schiebt jeder Idee eines „Erkennen Sie die Melodie?“–Sudoku einen Riegel vor. Zwar gibt es viel Verdi und Mozart, aber nichts aus den da-Ponte-Opern, wenig Puccini und Wagner, keinen Richard Strauss, dafür Rubinstein und Rimskij-Korsakow, Telemann und Salieri, Krasa und Niewiadomski, wer auch immer das sein mag.

Diese Europeras sind ein absolutes Fest für die Sinne – und nichts für Sinnsucher. Etliche Zuschauer, die vergeblich nach Handlung, nach Geschichte, nach Botschaft gesucht haben, verließen die Jahrhunderthalle in der Pause.

Eine Botschaft gibt es durchaus. Gefeiert wird die 400 Jahre alte einzigartige Kunstgattung Oper als nur von Menschen hervorzubringende Schönheit, als ein Theater von Menschen für Menschen. Das kann heute fast schon als politisches Statement gelesen werden. Und kleine, klitzekleine Geschichten sind auch zu entdecken, augenzwinkernd serviert zwischen all den Bildern.

Da schreitet eine Frau in jenem Turandot-Kostüm, das die Callas auf dem berühmten Cover ihrer Plattenaufnahme trägt, schweigend von vorne nach hinten, durch verschiedene Bühnenbilder und Lichtstimmungen. Selbst wenn es dunkel ist, glitzert der Flitter des Kopfputzes. Wenn dieser nicht mehr zu sehen ist, steht die Callas da, ganz normal, im Kleid. Verloren wirkt sie, unglücklich, eine Diva ohne Publikum, eine Schauspielerin ohne Rolle. Sie ringt die Hände. Eine venezianische Gondel transportiert sie zwischen abstrahierende Architekturstudien hindurch. Eine traurige, kleine Geschichte. Vermutlich gibt es eine ganze Menge davon.

Nach der Pause wird es statisch. Aus dem Sehvergnügen soll ein „Theater des Hörens“ werden. Ein Prospekt zeigt eine Renaissance-Vedute, einen Straßenzug. Davor versammeln sich die Sänger in dunklen historischen Kostümen und singen – größtenteils im Ensemble. Man hört ihnen gerne zu, ihre Stimmen mischen sich herrlich, die Instrumente bekommen mehr Gewicht, das Schlagwerk vor allem, die Holzbläser. Es gibt reizende, kleine, fast unmerkliche Veränderungen des Bühnenbildes. Alles ist elegant, alles stimmt zusammen, aber hier fehlt etwas - der Grund, aus dem man sich dem aussetzen sollte. Zu gebunden, zu wenig chaotisch ist hier die theatralische Kraft.

Dennoch – dieser Abend ist eine Befreiung, eine rituelle Reinigung einer Kunstgattung, kostbar und köstlich anzuschauen und allen Opernregisseuren dringend empfohlen, als Vergnügen wie als Korrektiv.