Cabaret im Theater Hagen

Aus dem Geschichtsbuch

Im Hinblick auf den Brandschutz muss im großen Theatersaal nachgebessert werden. Deshalb ist er für die nächsten Wochen nicht zu nutzen. John Kanders Erfolgsmusical Cabaret, Hagens Eröffnungspremiere findet deshalb im „opus“ statt, jener Spielstätte mit Studio-Atmosphäre, die etwas Projekthaftes, vielleicht sogar Experimentelles ausstrahlt und dazu anregen könnte, etwas Neues zu machen und die in bühnentechnischer Hinsicht vorgegebene Beschränkung als Chance zu nutzen.

Mit einer ausladenden Showtreppe etwa ist hier natürlich nicht zu rechnen, auch nicht mit großzügiger Fläche für überschäumende Performances der Kit Kat-Girls (und –Boys) – obgleich Barbara Tartaglias Choreographien sehr gut mit der räumlichen Enge klar kommen. Jan Bammes baut eine praktikable Bühne, die sich blitzschnell vom Club in das von Fräulein Schneider an Clifford Bradshaw vermietete Zimmer oder in den Obstladen des Herrn Schultz verwandeln lässt. Doch all die Personen, die hier ihren Alltag anno 1930 verbringen, ihre Sorgen spüren, ihren Wünschen und Lebensentwürfen nachhängen, auf ihren großen Erfolg warten oder „nur“ auf ein bisschen mehr Zufriedenheit... diese Menschen wirken in Thilo Borowczaks Inszenierung kaum authentisch. Ihre Schicksale tangieren uns nicht wirklich. Man nimmt diese wohl zur Kenntnis. Aber ohne dass man echt mit ihnen fühlt, hofft, leidet. Cliff und Sally, Fräulein Schneider und Herr Schultz –  sie alle stehen da als historische Figuren auf der Bühne, ohne dass ihnen wirklich Leben eingehaucht würde.

Auch das Heraufziehen des braunen Terrors – eine wichtige Erzählebene von Kanders Musical – geht vonstatten, ohne dass sich Gruseln oder Gänsehauteffekt einstellt: blonde Zöpfe, schneidige Jungs, mal steinern stehend, mal zackig marschierend, immer vom „morgigen Tag“ singend. Dann der Stein gegen die Fensterscheibe des Juden Herrn Schultz nach einer etwas saftlosen Verlobungsfeier mit Fräulein Schneider – nirgends wirkliches Grauen. Deshalb wirkt die Schlussszene, in der sich alle Akteure in taumelnde Zombies verwandeln auch eher unmotiviert.

Nicht unberührt lässt einen der Gesang von Marysol Ximénez-Carrillo als Sally Bowles. Der hat Tiefgang und Ausstrahlung, macht Emotionen erfahrbar. Das gilt genauso gut für Jeffery Krueger als erfolgloser Schriftsteller Clifford Bradshaw – eine perfekte Rolle für den Tenor, der im Hagener Ensemble seit Jahren eine äußerst gute Figur abgibt. Sylvia Rentmeister, von Hause aus Schauspielerin, gibt in Cabaret ihr Musical-Debut, muss sich aber fragen lassen, ob dies ihr Metier ist. Immerhin ist (ihr) Gesang gefragt – und da hapert es doch gewaltig. Die übrigen Rollen sind ordentlich besetzt, allein Henrik Wager nervt mitunter angesichts seiner deutlich übertriebenen Versuche, mit heiserem Lachen dem Conférencier diabolische Züge zu verleihen.

Wenn selbst der erfahrene Werner Hahn als Obsthändler Schultz und der sonst so sichere Hagener Opernchor viele Wackler haben, so ist das bestimmt zu einem Gutteil der Nervosität am ungewohnten Ort geschuldet, trübt jedoch den Gesamteindruck. Den können da auch die Kit Kat-Boys und -Girls mit ihrem ausgelassenen Spaß am Tanz nur bedingt aufhellen. Steffen Müller-Gabriel führt das Philharmonische Orchester Hagen sicher durch die Klippen der trockenen Akustik. Das Premierenpublikum applaudiert begeistert, aber ohne wirklichen Enthusiasmus.