Mit beängstigender Wucht
Den ersten Akt muss man überstehen. Nicht, dass der nicht gut gemacht wäre. In Kathrin-Susann Broses orange geschmücktem Ballsaal zeigt Helen Malkowsky gediegene Oper als bürgerliches Salonstück in den schönen, historisch angelehnten Kostümen von Alexandra Tivig. Liebevoll werden die Figuren entwickelt. Malkowsky zeigt die Unbedingtheit der verliebten Maria, Beschränktheit, Ängste und Besitzerstolz ihrer Eltern und vor allem Mazeppa in seiner faszinierenden Andersartigkeit. Dieser energiegeladene alte Mann lebt in einer Parallelwelt aus eigenen Ambitionen und Machtansprüchen. Maria ist seine Rettung, sein Tor zurück in eine Art Normalität. Die Intrige Kotschubejs am Aktende will dieses Tor zuschlagen. Das ist alles hervorragend erzählt, aber es zieht sich. Zu ungeschickt und weitschweifig disponiert Tschaikowsky seine Exposition. Hier dürfte auch der Grund dafür zu suchen sein, dass dieses fantastische Stück nach wie vor nur selten auf den Spielplänen auftaucht.
Ab dem zweiten Akt stimmt alles, in Stück und Inszenierung. Die Intrige ist gescheitert. Marias Vater ist Mazeppas Gefangener und wird unbarmherzig gefoltert. Alles wirkt modern jetzt: die Kostüme, die Räume, die Motive der Figuren. Die große, gemeinsame Szene von Mazeppa und Maria rührt. Sie quälen sich gewissermaßen aneinander vorbei. In Marias Spitzenpolitikergattinnenkostüm kehrt das Orange aus dem ersten Akt wieder. Es verweist auf die heutige Ukraine, auf von selbstsüchtigen Politikern ausgelöste Katastrophen. Mit beängstigender Wucht steuert die Inszenierung auf einen der grauenvollsten Momente des gesamten Opernrepertoires zu: Maria muss mit ansehen, wie ihr Vater auf Betreiben ihres Mannes hingerichtet wird. Und das in einem sehr realistisch abgebildeten Gefängnishof a la Fidelio.
Hier zerreißt Tschaikowsky sein Stück. Statt des Cellos regiert jetzt – außer in der „Schlacht von Poltawa“, dem Orchestergemälde als Zwischenspiel – die Violine. Die Bühne liegt in Trümmern. Die Figuren irren einsam hindurch. Alles Soziale, alles Zwischenmenschliche existiert nur noch als Erinnerung. Maria ist ein bindungsloses Jedermann-Mädchen. Politik hat Humanität abgetötet wie Mehltau.
Die Sänger beglaubigen dieses klar durchgeführte Regiekonzept mit soliden Stimmen, vor allem aber hervorragenden Interpretationen und schauspielerischen Leistungen. Johannes Schwärsky spielt außergewöhnlich differenziert. Er gibt seinem Mazeppa viel Menschlichkeit mit – und damit viel Fallhöhe – und zeigt in seiner großen Arie besondere Legatoqualitäten. Izabela Matula, neu im Ensemble, gestaltet intensiv aus der lyrischen Emphase ihres jugendfrischen Soprans. Der Moment, in dem sie von ihrer Mutter – Satik Tumyan mit gewaltigem, vibratoreichem Alt – die schicksalhaften Verstrickungen erfährt, berührt nachhaltig. Hayk Dèinyan ist ein Kotschubej mit leidenschaftlichem, hochmusikalisch geführtem Bass, Carsten Süss dominiert als ungeliebter Geliebter den Schlussakt mit seinen flüchtig wehenden Lyrismen. Jerzy Gurzynski und besonders Matthias Wippich sind beängstigend überzeugend als gewissenlose Erfüllungsgehilfen. Kairschan Scholdybajew leiht den wenigen Tönen des loyalen Iskra sein außergewöhnliches Tenormaterial.
Das Schönste zum Schluss. Mit Mazeppa begann Mikhel Kütson seine GMD-Tätigkeit an den Städtischen Bühnen Krefeld-Mönchengladbach. Es stimmte alles, die Balance zwischen Graben und Sängern, die Leistung des von Maria Benyumova hervorragend einstudierten Chores, und das – im Lyrischen wie im Dramatischen – geradezu beglückende Klangbild. So darf es sehr gerne weiter gehen!