Unergründetes Geheimnis
Eine Musik in beständigem Schwebezustand. Kaum greifbar, vielmehr flüchtig, fragil. Luzide Klanggespinste, dahingleitend. Dazu eine „Handlung“ in Form von Episoden, von Stationen menschlicher Empfindsamkeiten, ja Zuständen. Claude Debussys Pelléas et Mélisande, die er selbst ein „Drama lyrique“ genannt hat, ist ein Werk, das nahezu entmaterialisiert an uns vorüber zieht. Dieser radikale Gegenentwurf zu Richard Wagners handfestem Gesamtkunstwerk ist so sehr vom Zauber des Rätselhaften geprägt, so sehr vom Prinzip des Antiheldentums, dass mancher am Ende glauben mag, einer Illusion, einer Fata Morgana erlegen zu sein.
Camille Bellaigue schrieb zur Uraufführung in der „Revue des Deux Mondes“ (1902): „Diese Musik löst uns auf, weil sie selbst die Auflösung ist ... Sie enthält Keime, nicht aber Leben und Fortschritt, vielmehr Dekadenz und Tod.“ Überspitzt gesagt, standen manche Kritiker also vor einem Nichts. Doch wie kann dieses Etwas inszeniert werden? Vielleicht als psychologisierendes Kammerspiel, das auf äußeres Dekor weitgehend verzichtet. Mit Mimen, die Blicke sprechen lassen und (streng ritualisierte) Bewegungen. Und die singen, als säßen sie auf einem anderen Stern. Das Ganze ein Traum, fern von Ort und Zeit. Ja gewiss, in mancherlei Hinsicht sind wir hier auch bei Sigmund Freud.
In Essen aber, im Aalto-Theater, im wuchtig ummantelten Bühnenraum Raimund Bauers, sieht das Publikum großbürgerliche Realität. Steht nicht vor einem Rätsel, sondern erlebt eine Geschichte. Die sich orientiert am allbekannten Undinen-Stoff: Nixenhaftes Fabelwesen heiratet einen Prinzen und geht in dessen Lebenswelt zugrunde. Weil sie von den anderen gemieden, geächtet, dann bedrängt und geschlagen wird. Liebe und Erlösung gibt es nur im Tod.
Doch Pelléas et Mélisande, nach Maurice Maeterlincks symbolistischer Dichtung, ist kein Erlösungsstück. Die „Handlung“ entbehrt jeder Erklärung – von Stringenz oder Logik wollen wir gar nicht erst reden. Der Tod ist genauso ein Zustand wie das Begehren, Erdulden, Verzweifeln in anderen Bildern. Dem aber entzieht sich die Regie von Nikolaus Lehnhoff. Als folge er einem geheimen Credo: Auf der Opernbühne hat’s bitteschön eine ordentliche Geschichte zu geben. Und selbst das Zugeständnis, manches bei Debussy erinnere durchaus an Dvo?áks Nixe Rusalka, führt nur zur Erkenntnis, dass der Regisseur die Erwartung auf ein dramatisch geschärftes Kammerspiel nicht einlösen kann.
Dass er etwa Mélisande am Beginn als verheultes, scheues, ja zur Hysterie neigendes nervöses Wesen zeichnet, bleibt Episode. Was sie im Hause Golauds eigentlich sein könnte, dessen verweigert sich Lehnhoff. Ein Geheimnis als solches unergründet zu lassen, mithin nicht zu versuchen, dem Symbolismus auf die Spur zu kommen, führt allein zur Hingabe an die Musik. Dann aber stehen wir vor einer Regie, die wie ein Plädoyer fürs Konzertante wirkt. Doch immerhin: Raimund Bauers Ausstattung, mit bläulichem Nebel während der orchestralen Zwischenspiele, mit glänzenden Treppen, die ins Dunkle (der Seele) führen, oder mit grafischen Konstruktionen, die sich aus konträren Lichteffekten ergeben, bleibt die Aufmerksamkeit erhalten.
Die Bilder korrespondieren im übrigen mit den wundersamen Klängen, die Dirigent Stefan Soltesz den Essener Philharmonikern entlockt. Dies allerdings im doppelten Sinn: So sehr die Musik schwebt, in fragilem Fluss ihren Lauf nimmt, so materiell, über alle Maßen greifbar kommt das Tönende bisweilen daher. Das gilt nicht zuletzt für die Sänger. Michaela Selinger (Mélisande) formt Gläsernes, bleibt aber inkonsequent und tendiert eher zum handfest Dramatischen. Vincent Le Texier (Golaud) ist ohnehin ein Bariton der robusten Art, Wolfgang Schöne singt sonor den philosophierenden Arkel. Aufmerken lässt indes Jacques Imbrailo, der dem Pelléas wunderbar lyrische Farben gibt.
Am Ende gleichmäßig starker, aber kein enthusiastischer Applaus für eine Produktion, die alle Fragen offen lässt, weil sie nicht vermag, sich dem Rätselhaften überhaupt zu stellen.