Musiksprung ins Blaue
Felix Leuschner schrieb ein interaktives Oratorium zu Yves Kleins monochromen Wandschwämmen im MiR
Es hat nicht viel gefehlt, dann wäre diese Uraufführung – ein Auftragswerk der Intendanz zum 50. Todestag von Yves Klein – im Vorfeld an juristischem Kleinkrieg gescheitert. Denn Rotraut Klein (geborene Uecker), Witwe des mit 34 Jahren 1962 verstorbenen französischen Utopisten und philosophischen „enfant terrible“, untersagte zunächst die Gelsenkirchener Produktion. Man einigte sich dann doch kurz vor dem Premierentermin - allerdings musste MiR-Chef Michael Schulz eine eigentlich selbstverständliche Erklärung verlesen: Dass der Sprung in die Leere, so der offizielle Titel, kein Stück mit biographischer Genauigkeit sei, dass es sich um eine „frei assoziierte, subjektiv-spekulative Annäherung“ an die Figur handele. Viel Aufregung um wenig Substanz…
Denn Komponist Felix Leuschner (München) und sein Librettist Reto Finger (Zürich) zielen mit ihrem interaktiven Oratorium (oder Mysterium) für fünf Solisten, ein Kind, Chor und Orchester auf allgemeine Fragen von Kunst, Zeit und Gesellschaft, die jedoch gut am rebellischen Künstlertum Kleins poetisch festzumachen ist. Man erlebt im Foyer des Hauses, für das Architekt Werner Ruhnau 1959 den Visionär Klein als „Raumgestalter“ verpflichtete, eine Sehnsuchtssuche des Individuums nach Sinn, nach neuer Energie, nach Selbstbestimmung, nach dem Motto „Eine neue Welt braucht neue Menschen“. Gesungen wird wenig, gesprochen umso mehr – ein Lehrstück über Wandelnde und Wandlungen, über den Raum als spirituelles Abenteuer, über das Theater als Podium für die innere Revolution. Den Anspruch einzulösen, gelingt Leuschner mal mehr, mal weniger. Am eindrucksvollsten und nahe bei Kleins extrovertierter Ideenwelt sind irrationale, dennoch sinnliche Klänge – ein Summen (des hervorragenden Chores) und ein Sirren (des Folkwang-Kammerorchesters). Der ganze Raum wird zum schwebenden, irisierenden Klang. Dirk Erdelkamp als Dirigent gewinnt der Leuschner-Partitur gläserne Atmosphäre und eine irritierende Klangsprache ab. Wenn ein Romantik-Zitat eingestreut wird, dann wird für Momente deutlich, was wir alles bereits verloren haben – dass die Melodie, die Harmonik, der Frieden (in uns) längst ferne Ideale geworden sind.
Die Regie von Ulla Theißen umfasst die spezifische Situation des MiR-Foyers – insofern könnte das neue Werk nirgendwo sonst gespielt werden. Licht, Glas, Drehstuhl-Panoramen, Kleins Blau, Sprache, Gänge (warum marschiert der Chor in diese Richtung, die Solisten in die andere?), Orchester, Musik – Multimedia mit viel Aufwand. Ein paar Regalstufen genügen für kleine Veränderungen der Blickrichtungen – das Bühnen-„Bild“ gestalten die monumentalen Blau-Bänder Yves Kleins, die bei Leuschner zu einer scheinbar „stehenden“ Musik werden.
Mark Weigel als umtriebiges, unangepasstes Energiebündel Klein, der Gesellschaft und Zeit attackiert, dabei sich egomanisch mit der Sinnfrage konfrontiert, Elise Kaufman, Tina Stegemann, Hongjae Lim und Vasilios Manis als „namenloses“ Ensemble sowie Chor und Orchester erreichen eine hohe Intensität. Ob sie zusammen mit Leuschner/Finger dem Charisma und dem Charakter Kleins entscheidend gerecht werden, steht auf einem anderen Blatt. Kleins mit Aktionen gefüllter Gedankenkosmos wird ja nur gestreift.
Die ausverkaufte Uraufführung (knapp anderthalb Stunden lang) fand jedenfalls mehr als nur freundlichen Beifall beim Publikum. Der Sprung in die Leere, die für Klein als Kind der 50er Jahre zugleich himmlisches Sinnbild und individuelle Option bedeutet, geriet zur subjektiven Fragestellung: Was bedeutet Leben, was ist der Wert des Lebens, wie reagiert ein Künstler auf die gesellschaftliche Entwertung der Kunst? Springen wir alle nicht jeden Tag – ungeschützt in eine anhaltende Oberflächlichkeit?