Zur Zeit der Großindustriellen
Regisseur Philipp Kochheim holt Verdis Don Carlo quasi ins Revier, in die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, da oligarche Industriebarone mit Kohle und Stahl steinreich wurden, während diejenigen, deren Knochen zur Vermehrung dieses Reichtums herhalten mussten, als Proletariat dahinvegetierten. Uta Fink schafft dafür ein passendes Szenario: einen offensichtlich durch Umweltschäden zerstörten Garten. Das Autodafé im zweiten Akt ist ein Diner in großbürgerlichem Ambiente, Oligarch Filippo der Gastgeber. Die Deputierten sind wütende Arbeiter, die in diese großbürgerliche Welt eindringen, Barmherzigkeit fordern und dafür niedergeknüppelt werden. Und überall Licht, ganze Batterien von Scheinwerfern, die das Geschehen knallhart ausleuchten. Ganz am Ende wandeln die hochherrschaftlichen Personen in gesammelten, teils zerstörten Requisiten herum und kramen in ihren Erinnerungen.
Kochheims Don Carlo ist aber keine plumpe Polit-Agitprop-Veranstaltung: Nie vergisst der Regisseur die genaue psychologische Figurenausdeutung, die ganz individuelle Bezüge herstellt. Da ist Filippo, hart gegen alle, auch gegen sich selbst. Er ist ein Macher, der Gefühle bei sich nur im Ansatz zulässt. Damit hat er seinen Sohn Carlo schon früh zerstört. Der ist von Beginn an psychisch von der Rolle, tablettenabhängig und zu allem Überfluss noch in seine Stiefmutter verliebt. Da ist der Marquis de Posa, einer mit sozialdemokratischen Ideen, aber trotzdem Angehöriger der Oberschicht, der den Spagat zwischen diesen Polen nicht schafft. Und die Prinzessin Eboli - äußerlich eine emanzipierte Frau mit Liebhabern, rauchend und Krawatte tragend sehnt sie sich innerlich doch nur nach Liebe und Anerkennung. Mittendrin steht Elisabetta, Filippos junge Frau. Sie ist die einzige, die sich von Beginn an treu bleibt.
Die Tragödie, die sich aus dieser Konstellation ergibt, spinnt Kochheim präzise weiter, zeigt, wie sich die Figuren zueinander stellen. Und so ist das Ende unausweichlich. Alle waten durch die Trümmer ihrer Existenzen und Carlo, für den es kein Entrinnen geben kann aus den Klauen seines dominanten Vaters, verfolgt diesen mit dem Jagdgewehr - Ende offen!?
Kochheims Verdienst ist es, dass er beides zeigt: eine stimmige, spannende Figurenanalyse und deren politisch-gesellschaftlichen Rahmen.
Musikalisch spielt an diesem Abend das Philharmonische Orchester Hagen eine Hauptrolle. Man merkt GMD Florian Ludwig und seinen Leuten den Spaß an geballtem Klang an. Das wirkt alles frei strömend und ungebremst, ohne dass Feinheiten in Verdis Partitur zugedeckt würden. Übertönt werden manchmal leider die Sänger, was aber ganz sicher daran liegt, dass quasi auf offener Bühne gespielt wird. Weder rechts noch links noch oben gibt es reflektierende Flächen, die den Klang in den Theatersaal hinein bündeln könnten.
Der Chor des Theaters Hagen meistert seine Aufgaben ebenso ohne Fehl und Tadel wie die Studierenden der Folkwang-Hochschule als flandrische Gesandte, Richard van Gemert (Lerma) und Egidijus Urbonas (Mönch). Maria Klier singt süß ihr Himmelslied. Orlando Mason ist ein furchteinflößender Großinquisitor, während Tanja Schuns Tebaldo wie ein Bruder des pubertierenden Cherubino daher kommt.
Einen ganz starken Eindruck hinterlässt Raymond Ayers als Marquis de Posa, der von Beginn an vollends überzeugt. Xavier Moreno besticht als Carlo mit sicheren Spitzentönen, wird aber öfter vom Orchester übertönt wie auch Kristine Larissa Funkhauser, die die Eboli mit sehr schlanker Stimme gibt. Rainer Zaun vermittelt etwas von der Tragik des Filippo, legt ihn aber sehr emotionsarm an. Tamara Haskins Elisabetta ist ausgestattet mit voluminöser Tiefe und einer ebenmäßigen Mittellage.
Das Publikum jubelt mit großer Begeisterung, aber auch mit einem weinenden Auge – berichtete Intendant Norbert Hilchenbach doch von einem neuen Kapitel in der seit langen Jahren geführten und praktizierten Spardiskussion, die zum schleichenden Tod des Theaters Hagen führen kann. theater:pur wird in Kürze darüber berichten.