Am Puls der Zeit
Die gewaltige Anstrengung hat sich gelohnt. Das Theater Aachen kann die Zweitaufführung von Salvator Sciarrinos Superflumina als Erfolg buchen. Die musikalische Umsetzung ist excellent. Souverän disponiert Péter Halász die kleinteiligen, flüchtigen, mal schrillen, aber nie lauten, scheinbar zusammenhanglosen Klänge. Das auf der Bühne postierte Orchester stürzt sich mit Wonne in die ungewöhnlichen Aufgaben. Fast jeder Streicherton ist Glissando oder Schleifen. Auch den Bläsern sind kaum volle Töne gestattet. Dennoch entsteht ein faszinierendes Klanggemälde, von den wie magisch abgestimmten Proportionen her fast schon wieder klassisch. Der Opernchor vokalisiert präzise und intensiv, der Sinfonische Chor Aachen ist sogar – mit Feuereifer – fast ausschließlich als Bewegungschor unterwegs. Jorge Escobar und Antonella Schiazza aus dem Opernchor spielen zwei lebenslustige, ignorante Clowns in Bahnoutfits, die immer und immer wieder Verspätungen anzusagen haben. Der Bariton Hrólfur Saemundsson und besonders der Counter Armin Gramer brillieren hochmusikalisch in kleinen Solorollen.
Im Zentrum steht Anna Radziejewska. Sciarrino schrieb das Werk für ihre Stimme. Sie sang die namenlose Protagonistin bereits bei der Mannheimer Uraufführung. Radziejewska ist die heimatlose, ziellose Frau, die, verwirrt, ängstlich und voller hochpoetisch artikulierter Sehnsüchte, auf einem Bahnhof dahin vegetiert. Sie singt Sciarrinos repetitive, gezackte Gesangslinien, die nur selten dynamische Aufschwünge oder melodische Einsprengsel aufweisen, mit großem Selbstverständnis und noch größerer Klangschönheit. Der gewaltigen, oft merkwürdig nach innen gerichteten Präsenz der Künstlerin, die sich in der Inszenierung offenbar sehr wohl fühlt, kann man sich kaum entziehen.
Die Inszenierung von Ludger Engels und Ric Schachtebeck wirkt, zumindest von der Verwendung der Mittel her, fast wie eine Fortsetzung von Engels‘ spartenübergreifendem Bibelprojekt aus der Spielzeit 09/10. Das war An den Wassern zu Babylon überschrieben, was genau wie Superflumina (in lateinischer Übersetzung) auf den 137. Psalm verweist. Auch hier wird auf planen Realismus verzichtet. Text und Musik werden auf die Möglichkeit abgeklopft, gesellschaftliche Entwicklungen aufzuzeigen und Fragen nach sozialen Strukturen zu stellen. Die Protagonistin ist die, die nicht dazu gehört und verzweifelt nach sozialer Nähe, Kommunikation, Teilhabe verlangt. Die gesichtslose Menge verweigert ihr all das, misshandelt sie, ohne es zu merken. Eine extrem aktuelle Aussage, die auf einem Steg durch das ganze Parkett mitten ins Publikum hinein getragen wird.
Auch wenn immer wieder Momente der Leere, der inhaltlich nicht gefüllten Bewegung entstehen: es gelingt eine stringente Dramaturgie mit vielen existenziellen Momenten und – gerade zum Ende hin – sinnlichen und aussagekräftigen Bildern.