Übrigens …

Don Carlo im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Macht und Liebe

Worum geht es in Verdis Don Carlo? Um Machterhalt und politisches Kalkül (Philipp II.), um Staatsräson (Elisabetta), um Liebe (Don Carlo) und Eifersucht (Eboli), natürlich und gerade auch um Freiheit (für das unterdrückte flandrische Volk, von Marquis de Posa angeführt) – und um den größtmöglichen Einfluss der allmächtigen Kirche. All diese Aspekte sind spürbar in Stephan Märkis Umsetzung des Stoffes. Schon zu den ersten Tönen der Ouvertüre gibt’s auf der Bühne was zu sehen: Elisabetta wird quasi eingekleidet, erhält ein königliches Kostüm. Ein Kostüm? Nein, es ist ein Panzer, der deutlich macht: mit der politisch intendierten Ehe sperrt man Elisabetta und ihre Gefühle als Frau rigoros weg.

Wenn sich dann der Vorhang mit dem riesigen Kreuz darauf hebt, erscheint ein ganz nüchternes Ambiente, so etwas wie ein blaugrauer Kasten, stufenweise nach hinten ansteigend. Ein durch und durch sachlicher Raum. Schnell gewinnt man den Eindruck, Märki ginge es darum, abseits von jedwedem Schnickschnack die psychologischen Dimensionen all der Beziehungen auszuleuchten, die das Bühnenpersonal in den dreieinhalb Stunden Oper durchleben wird. Doch dieser Eindruck verflüchtigt sich schon ziemlich bald. Stattdessen kommt ganz leise das Gefühl von Langeweile auf. Weil Märkis Personenregie erfolglos bleibt bei dem Versuch, echte Gefühle so zu transportieren, dass sie im Publikum direkt ankommen, dass sie berühren, dass sie einen förmlich mitnehmen, mitleiden und mitbangen lassen. Vieles wirkt seltsam statisch wie die Szene, da Philipp die Vertraute seiner Frau, Gräfin von Aremberg, bestraft und des Landes verweist, wie Elisabetta und die Gräfin daraufhin Abschied nehmen. Oder der erste Auftritt der Eboli mit ihrem maurischen Lied. Oder der Beschluss Don Carlos und Marquis de Posas, sich zu verbrüdern, sich aneinanderzuschweißen wie Pech und Schwefel. Das kommt doch recht unglaubwürdig daher. Wo es Möglichkeiten gibt, die leicht dümpelnde Szene einmal wirklich aufzumischen, nämlich im Autodafé – auch da geht es eher behäbig zu, jedenfalls nicht wie in einem Volksspektakel. Muss ja auch nicht – aber es wird nicht klar, was Stephan Märki mit seiner Lesart sagen und/oder zeigen will. Er schlägt auch über die Stränge bei der Darstellung des Großinquisitors, der mit Kreuz und Dornenkrone wie die Inkarnation des Erlösers höchstpersönlich über die Bühne schreitet. Ursache (Christus) und Wirkung (die inquisitorische Kirche) werden da völlig miteinander verwechselt. Und die „Stimme aus dem Himmel“ turnt und trampelt in Form eines Kommunionkindes durch die Inszenierung.

Ein großer Wurf also ist dieser Don Carlo nicht, was zum Teil auch für die Musik gilt. Rasmus Baumann am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen macht seine Sache gut, setzt der blassen Szene aber kaum einmal eigenes orchestrales Temperament entgegen. Der Chancen dazu hätte es viele gegeben: szenische Schlüsse, die viel knalliger und packender hätten kommen können, ein spektakuläres Autodafé und so weiter. Klanglich lässt Baumann dem Orchester freien Lauf. Da ist viel Schönes zu erleben, beim Blech, beim Holz, bei den Streichern.

Schönes kommt auch von den Solisten, allen voran von Günter Papendell, der am Premierenabend völlig zu Recht mit dem größten Beifall belohnt wurde. In Gelsenkirchen als Sänger „groß geworden“ und derzeit an der Komischen Oper Berlin engagiert, bietet Papendell ein faszinierendes Porträt des Marquis de Posa: voller vokaler Energie, mit einer unglaublich facettenreichen dynamischen Gestaltungskraft, rund und ebenmäßig im Fluss, von wirklich noblem Charakter, ganz abgesehen von seinem schauspielerisch überzeugenden Talent. Perfekt! Renatus Mészár steckt in der Haut Philipps II., dem Regenten unter Sachzwang. Nur selten „taut“ er auf, wie in seinem „Ella giammai m’amò“ („Sie hat mich nie geliebt“). Da werden menschliche Zwischentöne erfahrbar. Von denen liefert auch Petra Schmidt in der Rolle der Elisabetta eine ganze Menge, vor allem im letzten (St. Juste-)Akt mobilisiert sie erstaunliche und durch und durch überzeugende Momente während der Begegnung mit dem nach wie vor geliebten Don Carlo. Ihr ganzes Schicksal stülpt sie nach außen, mit mühelos erreichter Höhe und feiner, subtiler Klanggebung. Die steht Carola Guber als Eboli nicht immer voll und ganz zur Verfügung – ihr Mezzo wirkt stellenweise etwas grob. Auch Daniel Magdal als Don Carlo macht keine durchweg glückliche Figur. Völlig problemlos meistert er jedes hohe Fortissimo, man bekommt aber schnell den Eindruck, als wären seine stimmlichen Möglichkeiten damit erschöpft.