Eine Welt von gefangenen Existenzen?
Eine kühl-elegante Kulisse mit weißem Interieur und grautöniger Rückwand, darin schräg abfallende und unerreichbar hoch eingelassene Fenster, die den Protagonisten jegliche Perspektive verwehren und, visuell wie auch im übertragenen Sinne, bereits ihren Weg in den Abgrund, konkreter gesagt: ins Gefängnis weisen. Und mittendrin ein allen Widernissen zu trotzen versuchendes, schwarz gerahmtes, aber dennoch verblasstes Johann Strauß-Portrait. Das nüchtern-sparsame Äußere der Kulisse steht im wirkungsvollen Kontrast zum dekadent-frivolen Treiben der Spaßgesellschaft. Regisseurin Helen Malkowsky kernsaniert gewissermaßen Strauß' Operette und macht aus dem plüschig-kokettierenden „Stoff“ bisweilen eine schrille wie künstliche Glitzerwelt. Aus der künstlerisch ambitionierten Kammerzofe Adele (Cornelie Isenbürger) wird eine Göre im Punk-Look, aus der Operndiva Rosalinde von Eisenstein (Melanie Kreuter) mit einer Schwäche für Tenöre (vor allem für Alfred: Daniel Pataky) ein ausgeflippter Lady Gaga-Verschnitt, aus dem aufmüpfigen verrenteten Musiker Gabriel von Eisenstein (Michael Pflumm), der ursprünglich wegen Beamtenbeleidigung für ein paar Tage brummen muss, ein entlarvter Steuerbetrüger, und aus dem ehrbaren, aber überforderten Gerichtsdiener Frosch (John Wesley Zielmann) ein zerzauster Alkoholiker, der in bester Slapstick-Manier über die Bühne torkelt. Doch nicht genug der Regie-Ideen: Der blasierte Prinz (Orlofsky: Sünne Peters) wird zur russischen Köchin degradiert, die frei nach dem Motto „Russland kocht – Europa löffelt“ zum „perfekten Promi-Diner“ einlädt, obschon sie gar nicht kochen kann. Und die Besucher ihres Balls entpuppen sich sämtlich als Gefangene, die für einen Abend ihre eigenen und die Grenzen des Gesetzes überschreiten dürfen.
Doch Malkowsky geht noch einen Schritt weiter: Orlofsky, der es gar nicht mag, wenn seine Gäste sich langweilen, lädt das Publikum nach einer kurzen Aufsteh-, Hinsetz- und Hahaha-Animation ein, selbst durch das Haus zu flanieren (besser gesagt sich durch die Gänge und Treppenhäuser zu schieben), hier und dort „jeder nach seinem Geschmack“ das Glücksrad zu drehen, sich mit Freunden oder dem „Gastgeber“ fotografieren zu lassen (um sich auf der Facebook-Seite des Theaters wieder zu sehen), das Tanzbein zu schwingen oder einfach nur der Musik der „Salon“-Ensembles zu lauschen, vom (völlig überfüllten) Balkon aus dem bunten Treiben zuzuschauen, Adele und Eisenstein beim Wettstreit um das gelungenste Ballkostüm zu begegnen, mit dem ein oder anderen „Prominenten“ ein kurzes Wort zu wechseln oder sich einer Polonaise anzuschließen. So erweckt die Inszenierung neben den Protagonisten das Publikum, das für einen Abend aus dem gewohnten Rahmen des Konsumierens ausbrechen darf (letztlich muss) – eine logistische Herausforderung, die Beeinträchtigungen und Verzögerungen mit einkalkuliert. Denn die Rechnung, möglichst jedem „Gast“ das „volle Programm“ zu bieten, geht – trotz vielerorts installierter Video- und Fotosequenzen von den verschiedenen Orten des Amüsements – nicht auf. Das vom Dach des Hauses abgeschossene Feuerwerk bleibt sogar weitgehend unbemerkt. So wird das ohnehin überreizte und bereits etwas orientierungslose Fußvolk nach relativ kurzer Zeit zurück in den großen Saal beordert, wo die „Rache der Fledermaus“ seinen gewohnten Lauf nimmt. Auch hier bespielt das spielfreudige Gesangsensemble den gesamten Raum – das Publikum soll sich weiterhin mittendrin statt nur dabei fühlen. Und dann wäre da noch das Komponisten-Portrait, aus dem im finalen Akt Franz-Josef Strauß (als ehemaliger Gefängnisdirektor!) hervorschaut, um schließlich zum Vogel Strauß zu mutieren, der lieber den Kopf in den Sand steckt, um die sich um ihn herum abspielenden gesellschaftlich-moralischen Verwerfungen und Oberflächlichkeiten nicht sehen zu müssen. Und die Idee, den dritten Akt durch einen grandios aufdrehenden John Wesley Zielmann aufzupeppen, wäre gelungen, wenn die missliche Lage eines resozialisierten ehemaligen Gefangenen und gleichzeitige Komik eines betrunkenen Wärters nicht allzu sehr ins Lächerliche und in die Länge gezogen würde.
Dass eine Glanznummer wie Orlofskys „Ich lade gern mir Gäste ein“ dagegen – nur noch bruchstückhaft aus dem Off und allein mit Akkordeon begleitet erklingt, ist ärgerlich. Adeles Couplet „Mein Herr Marquis“ wiederum ist an den Tresen verlagert und ist so vielen gänzlich vorenthalten. Überhaupt scheint die Straußsche Musik, die mit ihrem Dui-Du, Lalala oder Kling-kling bereits so viel zur Unverbindlichkeit und Floskelhaftigkeit einer sprach- wie perspektivlosen Gesellschaft zu sagen hat, neben dem Wort- und Ideenschwall zweifelsohne unterhaltsamer, an den politischen wie sozialen Zeitgeist angepasster Dialoge, musikalisch-verbaler Fremdzitate und überspitzter choreografischer Akzente fast ein wenig den Hintergrund zu rücken. So wirft die Bielefelder Inszenierung vor allem die Konventionen des Frontaltheaters über Bord, und darüber lässt sich trefflich streiten.