Tausend kleine hübsche Dinge
Wir befinden uns in einem barocken Theater von vor dreihundert Jahren, vielleicht im Londoner King’s Theatre. Links ein Hinterraum mit Schminktisch, Kleiderständern und allerlei Musikinstrumenten. In der Mitte die Bühne mit liebevoll gemalten Kulissen, rechts eine Art Aufenthaltsraum für die Künstler, unterm Dach eine abgestellte Windmaschine.
Es tritt auf: der Star! Ganz sicher ein berühmter Kastrat. Er verbeugt sich geziert vor dem Publikum und singt ombra mai fu. Aha, Händels Xerxes steht also auf dem Programm! Stefan Herheim lässt die Geschichte um Liebe, Eifersucht, Enttäuschung und Glück in diesem imaginären Theater, das Heike Scheele perfekt realisiert hat, spielen: auf der Bühne, hinter den Kulissen, in den Nebenräumen. Geschickt und mit Stringenz verquickt er Händels Oper mit der Echtzeit dieser Aufführung. So versuchen sämtliche Personen, sich vor dem Publikum in Szene zu setzen, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Da wird munter mit dem Orchester kommuniziert, werden Einsätze gegeben. Der Star fordert seinen Applaus und die großen Arien werden direkt von der Rampe ins Publikum hinein gesungen. Herheim gelingt dieses doppelte Spiel mit großer Leichtigkeit. Beide Ebenen erhalten ihre Eigenständigkeit und gehören dennoch fest zusammen.
So ist Xerxes’ Kampf um Romilda und deren Abwehrschlacht immer auch der Kampf von Kastrat und Primadonna. Dass das Ganze zu einer solchen Einheit verschmelzen kann, liegt sicher auch an der Ausstattung. Gesine Völlms üppige, verschwenderische Kostüme lassen versinken in diese Welt, in der nichts realistisch ist, sondern alles nur Schein und dennoch faszinierend. Ein Beispiel hierfür sind beim Sturm auf dem Meer die herrlich künstlichen Wellen, die hin- und hergeschoben werden und aus denen der Chor als muntere Meerfabelwesen auftaucht.
Ein weiterer Grund: der unendliche Ideenreichtum, den Herheim und sein Team entwickeln, wenn es darum geht, die einzelnen Arien zu inszenieren. Da gibt es tausend kleine Dinge zu sehen, die immer wieder die Lachmuskeln reizen: Die Mordversuche an Romilda, bei denen sich das Werkzeug vom Messer über die Pistole und die Minikanone bis zur Armbrust steigert. Oder der Moment, in dem die auf den Kulissen prangende Leuchtschrift XER-XES sich verwandelt in SEX-REX – alles klar? Das mag manchem etwas zu viel sein, fügt sich aber auf das Beste in das Regiekonzept. So werden drei Stunden Händel keine Sekunde langweilig – so wie vermutlich vor dreihundert Jahren. Herheim, der immer sehr genau in die Musik hineinhört, gelingt es zu jeder Zeit, sein Publikum zu fesseln.
Und man schaut gespannt zu, wie die Stars des Barocktheaters jede Chance nutzen, sich ins rechte Licht zu setzen: Der Diener brilliert mit einer Stimme changierend zwischen Counter und Bass - einfach köstlich. Immer wieder unterliegt die Darstellerin der Atalanta der Primadonna im direkten Duell, steht einmal sogar – im wahrsten Sinne des Worts – im Hemd da. Gegen das herrische Auftreten des Xerxes-Darstellers kann der zweite Kastrat nur mit einer wunderschönen Trauer-Arie punkten.
Am Ende ist es dann eh’ vorbei mit allem barockem Star-Kult: Der Chor (in heutiger Alltagskleidung) drängt als Kollektiv die Solisten in den Hintergrund, aus dem diese völlig verschüchtert erst zum Applaus wieder auftauchen.
Gesungen wird zum großen Teil deutsch mit witzigen Textaktualisierungen. Und das passt prima in den ganzen Ablauf. Die Sprache ist weder Fremdkörper noch Hindernis.
Für eine solche Inszenierung bedarf es großartiger Solisten. Und die sind vorhanden. Torben Jürgens ist der servile General Ariodates, den er mit seinem noblen Bariton adelt; Hagen Matzeit ein saukomischer Elviro mit echtem Berliner Akzent. Anke Krabbe zeigt als Atalanta ihr komisches Talent und besticht durch absolute Koloratursicherheit, Katarina Bradic trauert als Amastris mit schönem dunklem Mezzo um ihre verratene Liebe. Und Terry Wey als Arsamenes gibt mit seinem schmeichelnden warmen und weichen Countertenor dem Star alle Gründe dafür, warum dieser ihn loswerden möchte. Heidi Elisabeth Meier kann als Romilda mit immer wieder aufleuchtendem Sopran dem Xerxes absolut Paroli bieten.
Valer Barna-Sabadus ist zugleich Xerxes und der Kastraten-Star. Und er überzeugt mit seiner schönen, schlanken Stimme, aber auch mit einer fantastischen Bühnenpräsenz und großem schauspielerischen Talent. Es ist nicht nur ein Vergnügen, ihm zuzuhören, es macht auch absoluten Spaß, ihn agieren zu sehen.
Ganz vorzüglich ist die „Neue Düsseldorfer Hofmusik“, das Spezialensemble für Alte Musik und seit weit mehr als zehn Jahren ständiger Partner der Rheinoper in Sachen Barock. Konrad Junghänel schlägt Funken aus Händels Partitur, wo es um die Glut der Herzen geht, entwickelt einen ergreifenden Lamento-Ton, wo deren Stillstand befürchtet werden muss. Dazwischen liegen alle erdenklichen emotionalen Facetten.
Der Premierenbeifall glich einem Orkan, irgendjemand rief „Buh“...