Nur der Schönheit geweiht
Wer Puccinis Tosca nicht in- und auswendig kennt, wird vermutlich gar nicht bemerkt haben, dass es eine Tosca-Uraufführung war, die da im Theater Münster über die Bühne ging. Uraufführung? In der Tat. GMD Fabrizio Ventura dirigierte die erst kürzlich von Michael Rot herausgegebene kritische Neuausgabe der Partitur. Und die enthält vierzig Takte mehr Musik als die üblicherweise gespielte Fassung von 1900 aus dem Ricordi-Verlag. So dauern etwa die Sterbeszenen ein klein wenig länger. Ansonsten aber gibt es keine aufregenden musikalischen Überraschungen fürs Ohr – und dieser Eindruck deckt sich unbedingt mit dem, was Regisseur Achim Thorwald seinem Publikum fürs Auge bietet: keineswegs überraschendes, ziemlich konventionelles Musiktheater, dem man Szene für Szene folgt, ohne je wirklich gepackt zu werden, ohne mitzufühlen und mitzuleiden. Was da auf der in allen drei Akten von weißen Kassettenfach-Wänden geprägten Bühne passiert, ist die getreue Nacherzählung des Opernlibrettos, nicht das Thematisieren reaktionärer politischer Verhältnisse, in denen die Kunst eines Malers wie Cavaradossi wenig Lebensraum bekommt, in der sich Tosca mit ihrem Gesang instrumentalisieren lässt, in denen der Geist politisch Andersdenkender wie Angelotti knallhart unterdrückt wird.
Thorwalds Bildersequenz der erstarrten Posen entbehrt jeder Dynamik, die aus den handelnden Figuren glaubwürdige Menschen entstehen lassen könnte. Ist Tosca wirklich eifersüchtig, Cavaradossi wirklich Hals über Kopf in sie verliebt? Ist Scarpia wirklich ein Polizeichef, vor dem, wie Tosca berichtet, sich ganz Rom fürchtet? Und will er Tosca wirklich um jeden Preis für eine Nacht ins Bett bekommen? Man darf dies alles sehr bezweifeln. Authentisch sind allenfalls die Massen von Ministranten, Geistlichen, Ordensschwestern, Kindern, die Kreuzzeichen schlagend und schön in Reih’ und Glied unterm Gewölbe von Sant’ Andrea della Valle umherwandeln. Dem Rest des Personals nimmt man nicht ab, was es behauptet - und was doch den Stoff für einen Opern-Thriller böte.
Immerhin liefert die Aufführung musikalisch Bemerkenswertes, allen voran Allison Oakes in der Titelrolle. Ein schön timbrierter, klangstarker und durchsetzungsfähiger Sopran, der sich mühelos zu dramatischem Ausdruck steigert, genauso gut aber auch zärtlich und rührend sein kann („Vissi d’arte“). Adrian Xhema als Cavaradossi bleibt, was das Volumen seines Tenors betrifft, hinter diesem von Oakes gesetzten Maßstab etwas zurück. Klanglich macht er durchweg einen prächtigen Eindruck, hat den richtigen (Puccini-)Schmelz eines Verliebten, packt mit stupender Sicherheit die Höhen seiner Partie. Gregor Dalal, noch an einer Erkältung leidend, meistert die Rolle des Scarpia dennoch kraftvoll und markant. Dass man ihm nicht eine Sekunde lang abnimmt, er sei ein egoistischer Fiesling, ein brutaler Machtmensch, dem ein Menschenleben nicht viel gilt, liegt an Thorwalds Regie mit angezogener Handbremse. Allein Lukas Schmid als entflohener „Voltairianer“ Cesare Angelotti kommt schauspielerisch halbwegs überzeugend an – stimmlich sowieso. Plamen Hidjov gibt den von nervösen Zuckungen geplagten Mesner, Fritz Steinbacher den verlängerten Arm von Scarpia namens Spoletta. Wieder einmal füllt Steinbacher seine Rolle großartig aus – ganz ausgezeichnet sein Weg, den er in den letzten Jahren in Münster mit ganz unterschiedlichen Partien gemacht hat.
Das Sinfonieorchester Münster macht seine Sache gut, auch wenn ihm der letzte Kick zu einem Opern-Thriller fehlt. Möglich, dass die nivellierte Dynamik, die wenig Extreme kennt, sich also auch nicht orgiastisch ins Fortissimo schraubt, so in der Partitur der Urfassung notiert ist.
Ach ja: Allison Oakes trägt das Double jenes Kostüms, mit der Maria Callas 1964 die Tosca in Covent Garden gegeben hat. Wer weiß weshalb...