Ambitioniertes Unternehmen
Aus Anlass des Karls-Jahres 2014 bringt das Theater Aachen Händels Ariost-Opern auf die Bühne: Nach dem aktuell inszenierten Ariodante folgen in den kommenden Spielzeiten noch Alcina und Orlando. Zur Erinnerung. Orlando war einer der Ritter Karls des Großen bei dessen Feldzügen gegen die Sarazenen, und dieser Kaiser ist mit der Geschichte Aachens eng verbunden. Das Epos Orlando furioso von Ludovico Ariost, stoffgleich mit dem religiös freilich stark überhöhenden Gerusalemme liberata von Torquato Tasso, bietet eine Fülle von operntauglichen Episoden. Eine hat sich (nicht nur durch Händel) in Ariodante manifestiert. Bei der Londoner Uraufführung 1735 war das Werk nicht sonderlich erfolgreich und überlebte eine Wiederaufnahme im nächsten Jahr nicht. Es folgte ein Archivschlaf von 2 Jahrhunderten.1926 teste man die Oper erneut, doch erst 30 Jahre später ging sie wirklich ins Repertoire ein, begleitet von Aktivitäten der Phonoindustrie
Der Aachener Ariodante folgt der Praxis der Gesamteinspielungen, die Titelrolle mit einer Mezzosopranistin zu besetzen: Sophia Steffan unter Stephen Simon (1971), Janet Baker unter Raymond Leppard (1978), Lorraine Hunt unter Nicholas McGegan (1995) und Anne-Sofie von Otter unter Marc Minkowski (1997). Ob ein heutiger Countertenor überhaupt in der Lage wäre, die bei der Covent-Garden-Premiere vom Kastraten Giovanni Carestini virtuos gestemmte Titelpartie adäquat zu bewältigen, wäre erst einmal zu prüfen. In Aachen ist man aber nun wahrlich nicht unglücklich über die weibliche Variante, denn Violetta Radomirska verfügt über alle Ausdrucksparameter, welche die Titelfigur benötigt, dramatischen Impetus ebenso wie lyrische Empfindsamkeit. Ariodantes Klage über die vermeintliche Untreue der geliebten Ginevra, eine extrem gedehnte Szene im 2. Akt, birst geradezu vor sublimem Seelenschmerz und ist „Lascia ch’io pianga“ (Rinaldo) und „Piangeò la sorte mio“ (Giulio Cesare) an die Seite zu stellen.
Auch Ginevra sind Soli dieser Art zugedacht, eines in Einstimmigkeit mit obligater Violine. Katharina Hagopian, zunächst mit flatternder Höhe hier und da irritierend, baut dieses Defizit immer mehr ab. In der Mittellage beeindruckt ihr ungemein ausdruckskonzentrierter Gesang ohnehin ausnahmslos.
Speziell an der Figur der Ginevra ließe sich festmachen, was bei der Rezeption Händelscher Bühnenwerke auch heute noch befremden kann. So findet man zur demutsvollen Haltung des Mädchens keinen Zugang mehr: wegen ihrer (wie gesagt: vermeintlichen) Untreue zum Tode verurteilt, darf sie zwar kurz in Ohnmacht fallen, bittet anschließend aber darum, vor der Vollstreckung noch einmal die Hände ihres staatsmännisch kalten Vaters küssen zu dürfen. Gut: Händel hat Ginevra eine Albtraum-Szene komponiert, doch das ist (trotz deutlicher Visualisierung durch Regisseur Jarg Pataki) zu wenig, um nicht mit Alice Schwarzer auf die Barrikaden gehen zu wollen. Zudem kommt bei dreieinhalb Stunden Aufführungsdauer generell eine gewisse Lähmung der Aufmerksamkeit hinzu, Zuletzt hat, man kaum die Kraft, noch einer weiteren koloraturgespickten, emotionale Befindlichkeiten endlos dehnenden Arie zu folgen. Händel, selber ein äußerst pragmatischer Theatermensch, hätte sicher nichts dagegen, wenn seine Werke heute natürlich seriös, aber doch nicht zimperlich eingestrichen würden.
Vor kurzem hat sich Düsseldorf einen kompletten und ähnlich langen Xerxes geleistet, aber da verstand es Regisseur Stefan Herheim, einem mit seinen szenischen (manchmal Über)Einfällen die Zeit nicht lang werden zu lassen. Es ist sicher nicht ungeschickt von Jarg Pataki, in seiner viel ruhigeren Inszenierung Solonummern immer wieder in Rampenpositionen gefrieren zu lassen, aber auch gute Ideen können sich mal totlaufen. Gegen Ende steigert der Regisseur Momente von Ironie. Ganz zuletzt geschieht das mit einer zusätzlichen Kulisse, deren Bemalung dem wiedervereinigten Paar Ginevra/Ariodante herrlichen Kindersegen verspricht. Und die Braut ermahnt ihren immer so träumerischen Bräutigam nicht ganz unsanft an künftige repräsentative Staatspflichten. Das ist reichlich stark akzentuiert, hätte zumindest vorher auch anderswo angespielt werden müssen.
Der Hinweis auf die Anschuldigungen gegenüber Ginevra mag als Andeutung für die Handlung ausreichen; im Einzelnen müssen die stereotypen Irrungen und Wirrungen, Liebes- und Racheschwüre nicht ausgebreitet werden. Aber natürlich ist an dem Geschehen ein ganz, ganz böser Mann beteiligt, Herzog Polinesso, der Ginevra eigentlich nicht einmal wirklich liebt, sondern über sie vor allem politischen Aufstieg erhofft. Sanja Radisic, ganz in „böses“ Schwarz gekleidet, charakterisiert ihn mit kraftvoller und doch agiler Stimme; überlegen und mit süffisant-sinistrer Darstellung. Das Liebespaar neben Ginevra/Ariodante: Jelena Rakic (Dalinda) mit heller, beweglicher Soubrettenstimme und Patricio Arroyo (Lurcanio), dessen attraktiver, ebenmäßiger Tenor weiterhin größere Aufgaben finden sollte. Den König verkörpert Pawel Lawreszuk.
Mit kühler Dezenz hat Anna Börnsen die Bühne ästhetisch schön und angenehm funktional eingerichtet. Apart das aus einer Kachelwand herauswachsende Bäumchen, welches am Anfang hübsch zu Ariodantes Naturschwärmerei korrespondiert, eine ähnliche Szene übrigens wie Xerxes‘ „Ombra mai fù“. Fast noch mehr Eindruck machen Sandra Münchows stilübergreifende, dennoch leicht historisierende Kostüme mit ihren fantasievollen Applikationen.
Ein Spezialensemble wie in Düsseldorf (Xerxes) kann sich Aachen nicht leisten. Es imponiert jedoch, wie klar, entschieden, substanzreich und klangdicht sich das Sinfonieorchester Aachen unter Péter Halász die musikalische Barocksprache erarbeitet hat. Der Premierenjubel war bereits in der Pause wie elektrisiert und erreichte am Schluss hierorts noch nie erlebte Ausmaße.