Folle journée oder Bonjour Tristesse?
Es geht also. In der Dortmunder Neuinszenierung von Le nozze di Figaro (Koproduktion mit Nürnberg) wird in historischen Kostümen agiert, ohne dass der Eindruck entsteht, es würde nur simpel 1:1 gemäß Libretto bebildert. Diese Feststellung will sich kein Regie“konzept“ anmaßen, sondern lediglich eine Übersättigung an so manchen mutwilligen und krampfhaften Vergegenwärtigungen festhalten. Einmal damit angefangen, scheint man ja von dort nicht wieder herunterkommen zu können. In Dortmund schon. Die Ausstatterin Julia Hansen setzt freilich ein abstrahierendes Bühnenbild dagegen, im Stil nur nicht ganz einheitlich. Das Zimmer der Gräfin wird von kompakten Wänden (vom Schnürboden herabgelassen) eingefasst, im 3. Akt gibt es lediglich ein rahmendes Gestänge, welches zuletzt vollständiger Leere weicht. Der Chor bestreut den Boden mit Laub - das ist dann (ergänzt durch eine kleine Hütte und eine Art Erdbunker) der Garten, in dieser Form absolut ausreichend lokalisiert. Kein Laubengrünzeug wie kürzlich in der Duisburger Hampe-Inszenierung. Als optische Hinzufügung dient noch eine Schaukel für manch neckisches Treiben.
Auch der 1. Akt spielt auf einer leeren Bühne, allerdings versehen mit Ortsandeutungen durch diverses Mobiliar. So steht im Zentrum das Bett der Gräfin, links befindet sich eine Gesindeküche, im Hintergrund ist das Studienzimmer von Musikmeister Basilio zu sehen (Hannes Brock gibt bereits hier erste Kostproben seiner skurrilen Darstellungskunst). Diese Vernetzung von Schauplätzen soll Gleichzeitigkeit von Vorgängen ermöglichen, wovon sich die Regisseurin Marianne Clément für den Zuschauer vermutlich Durchblick verspricht. So jedenfalls argumentiert Dramaturg Georg Holzer im Programmheft. Der Zuschauer sieht es wohl ein wenig anders: was punktuell möglicherweise von Reiz ist, wirkt in der gebotenen Fülle nur bedingt sinnvertiefend und lenkt zu oft nur ab.
Trotz dieser Einwände ist von einer plausiblen, über weite Strecken zauberhaft lebendigen Inszenierung zu sprechen, deren Qualitäten nicht zuletzt in neu gesehenen oder neu beleuchteten Details stecken. Dass Figaro zu Beginn nicht den Platz für sein künftiges Ehebett ausmisst, sondern Geld zählt, ist dabei noch eine Äußerlichkeit. Wenn aber die Gräfin von den Annäherungsversuchen ihres Gatten bei Susanna erfährt, aufschreit und mit einem Messer in der Hand nach vorne stürzt, bekommt das „Porgi amor“ wirklich mal die Färbung von tiefer Tragik, während die Elegie der Musik sonst häufig unverbindlich wirkt. Cherubino beginnt sein „Voi, che sapete“ stammelnd, bricht herzklopfend ab; erst nach kräftigem Durchatmen bringt er die Nummer zustande. Ileana Mateescu, ein recht hochgewachsener Page, macht das wunderbar rührend und singt herzerwärmend. Im 3. Akt muss die Gräfin schon sehr nachhelfen, damit Susanna bereit ist, den Grafen anzumachen. Barbarina verliert die Nadel, weil sie sich nächtens mit Cherubino verlustiert - endlich mal eine stimmige Deutung des keineswegs unbedeutenden Vorgangs. Weiterhin ist es vorteilhaft, am Ende der „Rosenarie“ den Kleidertausch von Gräfin und Susanne leibhaftig beobachten zu können.
Und der heikle Schluss? Der Graf intoniert sein „Contessa, perdona“ erst, nachdem er die gespannt wartende Menschenmenge um ihn herum inspiziert hat. Die „diplomatische“ Bitte um Verzeihung mag sich von Mozarts Herzensmusik vielleicht ein wenig entfernen, dennoch überzeugt diese Lösung. Aber alle Anwesenden spüren die Fragwürdigkeit dieses „lieto fine“, und wird der Graf dann auch im Wortsinn verschaukelt und fast zu einem „Leidens“bruder von Falstaff.
Die Dortmunder Aufführung eröffnet überdies neue Möglichkeiten im Umgang mit Übertiteln. Diese sprechen nämlich eine ganz eigene Sprache, sind nicht lediglich wörtliche Übersetzungen des Librettotextes, dessen Übersetzungen ja ihrerseits schon mal ein wenig altmodisch wirken können. In Dortmund wagt man sich manchmal fast bis zum Gossenhaften (Barbarina etwa: „O ich dumme Kuh“), auf jeden Fall aber lesen sich die Texte herzhaft umgangssprachlich. Auf diese Weise wird das Innenleben der Personen oft deutlicher als sonst. Dieses Prinzip sollte allerdings maßvoll und mit Fingerspitzengefühl angewandt werden und ist sicher auch nicht für alle Werke tauglich.
Die Dortmunder Philharmoniker bieten unter Jac van Steen einen zupackenden, forschen, aber genügend eleganten Mozart-Stil. Bei den Sängern besticht Eleonore Marguerre als Gräfin mit ausgesprochen klangvollem Sopran und nobler Diktion, die Susanna von Anke Briegel besitzt soubrettige Frische, aber auch genügend Lyrik für das „Deh vieni“. Kraftvoll und cholerisch zeichnet Gerardo Garciacano den Grafen. Figaros Eltern sind mit Katharina Peetz und Christian Sist treffend und spiellaunig besetzt. Den Sohnemann gibt Morgan Moody sympathisch und lebendig; seiner Stimme fehlt es nur etwas an Kern bzw. Biss. Tamara Weimerich gelingt es, aus Barbarinas Auftritten zentrale Szenen werden zu lassen. Und bis zum Schluss bleibt Hannes Brock bühnenfüllend.