Zeilenreiches Psychogramm unerfüllter Träume
Ein greller Scheinwerferkegel wirft seinen kühlen Lichtspot in die dunkle Leere der Bühne. In seinem Schein steht Eugen Onegin, den Rücken zum Publikum gewandt. Doch aus seiner Haltung sprechen bereits die Einsamkeit und Verlorenheit einer abgewiesenen Seele, der die Welt bourgeoiser Geborgenheit verwehrt bleiben wird.
In ihrer Inszenierung setzt die junge niederländische Regisseurin Lotte de Beer den Fokus auf die tragische Hauptfigur, stellt gewissermaßen gleich zu Beginn die Frage: Verbirgt sich nicht schon hinter dem bedrückenden Beginn des Orchestervorspiels mehr als nur die Sehnsucht Tatjanas nach der roman(phantas)tischen Liebe, sondern auch ein ebenso naiver Erlösungswunsch Onegins, ebensolches biedermeierlich enges Dasein zurückzulassen? Klingt hier nicht gleichwohl seine am Ende unvermeidlich erscheinende Einsamkeit voraus? Auf die Spitze getrieben wird der Blick in Onegins verstörtes Innenleben, indem Lotte de Beer ihren Onegin doppelt. Einmal sehen wir den gesungenen Onegin gefangen in statuesk-eingefrorenen Posen oder alltäglich-etabliertem Verhalten. Gleichzeitig taucht immer wieder ein zweiter Onegin in der choreografischen Artikulation durch Stefan Kunzke als die innere Gefühlswelt auf. Bereits im ersten Akt befallen Onegin traumatische Wahnvorstellungen: Nachdem er Tatjanas Liebesbekenntnis gelesen hat, malt er sich in einem Tagtraum (Dirk Mestmacher als Onegin) aus, wie seine glühende Verehrerin (hier: Mylène Kroon) ihn umklammert, verfolgt und seiner letztlich nur oberflächlich funktionierenden Unnahbarkeit zur Last wird. Kontrastierend dazu spielt sich der rein kommentierende Chor der Landmädchen im Orchestergraben und somit quasi gleichermaßen in der Fantasie ab (wunderbar leichtfüßig die Frauen des Opernchores). Ein gewinnbringender Kunstgriff!
Doch damit nicht genug. Mittels einer auf das Duell der einstigen Freunde folgenden Traumsequenz schafft Kunzke eine beängstigend-suggestive Version der sonst den Ball im Hause Gremins schmückenden Polonaise. Onegins Seele tritt aus ihm heraus, wickelt die Leiche Lenskijs in ein Tuch und schafft sie fort. Doch wird sie die quälenden Gedanken an die Vorkommnisse nicht los, durchlebt sie in seinem Albtraum genauso wie die Verlustierungen mit Frauen auf zahllosen Bällen während seiner langjährigen Flucht in seine „alte“ Welt. Aus der festlichen Polonaise wird so eine albtraumartige Bildsprache, in der der tote Lenskij erscheint und das zuvor weggeschaffte Leichentuch zu einem Sack voller Briefe wird, den Lenskij über ihm ausleert: ein Fingerzeig auf das Ende der Oper, bettet doch der Rest der Szenerie quasi auf jener Last an geschriebenen Worten. Die Briefszene Tatjanas aus dem ersten Akt wird hier konsequent fortgesponnen und findet so ihre Vollendung in der Schlussszene des dritten Aktes, in der sich Tatjana und Onegin nicht im persönlichen Dialog gegenüber stehen, sondern Onegin die nun standhafte Tatjana in einer „eigenen“ Briefszene mit einem Schwall an Briefen überhäuft. Diesem „zeilenreichen“ roten Faden gegenüber hätte man sich auch bei der Ausgestaltung der großen Arien den ein oder anderen über bedeutungsschwangere Gesten hinaus gehenden erhellenden Regieeinfall gewünscht.
Aus dem fast durchweg gut besetzten Solistenensemble indes – gesungen wird in der Originalsprache – stechen Sarah Kuffner als Tatjana und Daniel Pataky als Lenskij heraus. Kuffner gleicht einem expressionistischen Stimm-Kunstwerk mit satten, aber ebenso pastellenen Tönungen. Ihr heller, schlank vibrierender Sopran koloriert die Entwicklung Tatjanas von jugendlich-romantischer Verklärtheit und ihrer ergreifenden Briefszene bis zur gereiften Klarheit und moralischen Entschiedenheit mit einer spielerischen wie stimmlichen Glanzleistung. Pataky verkörpert den tragischen Helden Lenskij mit inbrünstiger Leidenschaft und hervorstechender Klangfarbe, die den neurotisch-verletzlichen Charakter des unsterblich verliebten Dichters prägnant widerspiegelt. Seine brennende Leidenschaft beschränkt sich allerdings nur auf wenige Momente, in denen Patakys darstellerisch ausdrucksreiche Palette voll zur Geltung kommt – nicht zuletzt bei der schmerzerfüllt-wehmütigen „Kuda, Kuda“-Arie des zweiten Aufzugs. Levent Bakircis Onegin wirkt hingegen beinahe skizzenhaft, sein (noch) aus einem Holz geschnitztes, oft forciert eingesetztes Stimmmaterial lässt nur ein Farbregister zu – mit Ausnahme der „zweiten Briefszene“, wo er fast überraschend eine gebrochene Stimmfärbung von leiser Verzweiflung durchscheinen lässt. Doch auf unfreiwillige (?) wie unterschwellige Art will Bakircis holzschnitthafte Darstellung zum Charakter eines jungen ungeschliffenen wie unausgereiften Dandys passen. Melanie Forgeron kann als Olga weniger überzeugen, was wohl vor allem daran liegt, dass diese Partie tendenziell zu tief für sie ist. Vladimir Miakotines Fürst Gremin klingt fast ein wenig torsohaft, fehlt seinem bis in die tiefsten Register präsentem Bass doch die füllige Substanz und „schwarze“ Tiefe, die einem in seiner Arie leidenschaftlich-lyrisch von seinem zweiten Frühling erfassten, gealterten, aber immer noch herrschaftlichen Fürsten angemessen wäre. Vuokko Kekäläinens Larina (Gutsherrin und Mutter von Olga und Tatjana) ist wunderbar gluckenhaft-verschroben gespielt, ihre große Stimme wirkt jedoch angesichts angezogener Tempi meist nur im Vibrato beweglich. Sünne Peters mimt indes eher eine resolute Haushälterin als die warmherzige Amme Filipjewna.
Einer darüber hinaus soliden solistischen Besetzung steht ein Chorensemble gegenüber, das selbst mit spielerischen Akzenten zu überzeugen weiß. Akzente setzt auch Marouscha Levys Bühnenbild, das mit der Ambivalenz zwischen einem übermöblierten, fast museal wirkenden Salon biedermeierlicher Enge (der allerdings – ein wiederkehrender Regieeinfall – eher störend oft umgeräumt wurde, was man subtiler hätte lösen können) und einem tiefen, düsteren wie vernebelten leeren Raum spielt (ihre Kostüme wiederum muten fast zeitlos schlicht an). Auch das Lichtdesign (Henk van der Geest) spiegelt neben den äußeren Gegebenheiten die inneren Gemütszustände Tatjanas, Onegins und Lenskijs effektvoll wider. Ähnliches gilt für Alexander Kalajdzic, der die Bielefelder Philharmoniker mit stellenweise atemberaubendem Gespür zwischen Hochgefühlen und Abgründen in emotionale Schattierungen und Eruptionen (herausgegriffen sei hier nur Tatjanas Briefszene) führt. Da lässt sich über kleinere Abstimmungsschwierigkeiten (Tempo und Einsätze) zwischen den Solisten und Orchester leicht hinweghören. Am Ende dieses Abends jedenfalls überwiegt ob einer stimmigen wie stimmungsvollen Inszenierung und musikalischen Gesamtleistung eine Mischung aus musikalisch-sinnlichem Glücksgefühl und emotionaler Ergriffenheit.