Wagner gerührt, nicht geschüttelt
Jede Bühne, die Richard Wagner feiern will, vor allem in diesem Jahr zum 200. Geburtstag des Bayreuther Meisters, steht vor einem grundlegenden Problem: des Komponisten schmales Oeuvre. Das mag absurd klingen, doch bei näherer Betrachtung erweist sich Wagners Opernkanon als mehr oder weniger abgespielt. Selbst der auf vier Abende angelegte Ring ist längst nicht mehr nur großen Häusern vorbehalten. Kundige sagen bisweilen, eine Ring-Pause wäre nicht das schlechteste.
Andererseits fristen Wagners Frühwerke, Das Liebesverbot und Die Feen, seit jeher ein Mauerblümchendasein, gibt es nur gelegentlich den nahe der Grand Opéra anzusiedelnden Rienzi zu sehen. Bleiben, neben kleineren Arbeiten, die fünf Wesendonck-Lieder für eine Frauenstimme und Klavier. Der Dirigent Felix Mottl, nicht Wagner selbst, hat diese Piècen opulent instrumentiert, auch sie gehören gewiss nicht zum gängigen Repertoire.
Wie also dem romantischen Genius namens Richard Wagner im 21. Jahrhundert auf originelle Weise begegnen, ganz im Sinne seiner vielzitierten Forderung „Kinder, schafft Neues“? Nun, die Deutsche Oper am Rhein hat sich entschieden, den Komponisten Helmut Oehring zu beauftragen, eine Antwort zu geben. Das Ergebnis ist eine Art Hommage in Form des sanften musikalischen Überschreibens, des Aufladens mit Bedeutung, des Demonstrierens artikulatorischer Effekte. Es begegnet uns eine Collage verschiedener Klänge und Texte unter dem Titel SehnSuchtMeer oder Vom Fliegenden Holländer.
Helmut Oehring, 1961 in Berlin geboren, ist musikalischer Autodidakt. Seine Vita weist lediglich ein kurzes Studium bei Georg Katzer an der Akademie der Künste aus. Mit Blick auf sein aktuelles Werk spricht er von einer Antwortmusik auf Wagner. Solcherart Affirmation hat es bei Oehring im Jahr 2004 bereits mit der Befassung des Wozzeck-Stoffes gegeben.
Und wie so oft, hat der Komponist mit dem Regisseur Claus Guth und Ausstatter Christian Schmidt ein vertrautes Team um sich geschart. Im Fokus steht allerdings die gehörlose Gebärdensprachsolistin Christina Schönfeld, gewissermaßen als emotionale Zentralgestalt der Produktion. Denn Oehring selbst ist als Kind gehörloser Eltern aufgewachsen, und es dürfte nicht allzu weit hergeholt sein, das stete Einbeziehen dieser sprachlichen Ebene als Aufarbeitung eines kindlichen Traumas zu deuten.
Die Hinwendung dieses Künstlers einer wie auch immer gearteten Moderne gerade zum Stoff des Fliegenden Holländers ist also kein Zufallsprodukt. Oehring begibt sich auf die Spuren einer getriebenen Geistergestalt der nachtschwarzen Seite der Romantik. Der Verfolgte, der stets (vor sich selbst) Flüchtende ist seine zentrale Figur. Und natürlich ist damit auch Wagner gemeint – der steckbrieflich gesuchte Revolutionär, der Schuldenkönig, der besessen Schaffende wie Liebende, der Erlösung durch Weibes Treue suchte, ganz wie der Holländer.
Auf der Bühne ist von Wagner allerdings nichts zu sehen. Dafür lässt Regisseur Claus Guth eine ganze Schar somnambuler, rätselhafter, wahnbesessener Figuren durch die Szene spuken. Die sich indes in großbürgerlichem Ambiente bewegen: Christian Schmidt baute einen hohen, offenen Raum, zu dienen als Kirche und Salon oder als Werkshalle und Fernsprechamt, den Beginn der Industrialisierung symbolisierend. Schöne Bilder, wenn auch nicht gerade machtvoll beeindruckend.
Oehring wiederum beschränkt sich nicht auf die Holländer-Sage, sondern bedient sich eines wenig zwingenden dramaturgischen Kunstgriffs: der Verflechtung des Stoffes mit Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau. Hinzu kommt eine Szene in Otto Wesendoncks Salon, in dem eben jene Lieder von Mathilde erklingen. Unterlegt mit Zitaten aus Wagners Briefen an die Geliebte. So schichtet Oehring Episoden des romantischen Zeitalters zu einer Collage, die den Nachteil hat, einem verkopften Konstrukt zu ähneln.
Er und Regisseur Guth arbeiten dabei mit dem Konzept der Figurendoppelung. Die Meerjungfrau, die einen menschlichen Prinzen liebt und letzthin den Tod findet, ist Senta, die um der Erlösung des Holländers Willen in den Tod geht. Sie ist auch Mathilde Wesendonck, die vor Gram ob ihrer Untreue offenbar in tödliche Ohnmacht fällt. Ihr gehörnter Mann ist natürlich niemand anderes als der Holländer.
So entfaltet sich vor uns zwei Stunden lang ein Reigen des Sehnens, Begehrens und Erlösens. Teils in aller Sachlichkeit erzählt von Rudolf Kowalski oder in großmütterlich-gutmütigem Tonfall der Jutta Wachowiak. Dann wahnhaft verzerrt in den virtuosen Artikulationskaskaden eines David Moss, den wüsten Kontrabasssoli von Matthias Bauer (als Holländer-Alter-Ego). Oder aufs Schmerzlichste illustriert durch die Gebärdensprache Christina Schönfelds.
Und die Musik, mithin das Neue? Die Düsseldorfer Symphoniker unter Axel Kobers umsichtiger Leitung dürfen viel Wagner spielen, wenn etwa Simon Neal kantig den Holländer-Monolog singt oder Manuela Uhl traumverloren und leidenschaftlich Sentas Ballade. Darunter mischen sich indes harmonische, rhythmische oder geräuschhafte Störer aus Oehrings Feder. Wagner mit Beigabe also, ein wenig gerührt, nicht geschüttelt. Ein zwiespältiger Abend, vom Publikum freundlich akklamiert. Nichts für eingefleischte Wagnerianer oder Neue-Musik-Puristen.