Übrigens …

Spring Awakening im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Ein Drahtseilakt

Diese Premiere im ausverkauften Kleinen Haus muss aus drei Perspektiven gesehen und gewertet werden: als Adaptation des damals „sensationellen“ und skandalreifen Schauspiels von Frank Wedekind (Frühlingserwachen, 1891, Uraufführung 1906 Berlin); als Thema und Stück von heute; als Fortsetzung der modellhaften Kooperation zwischen dem MiR und der Folkwang-Universität der Künste, bei der Dozenten und Studenten des Essener Instituts in die praktische Theaterarbeit einsteigen.

Wedekinds Protestaufschrei vor gut 120 Jahren lebt vom tragischen Konflikt einer aufbegehrenden, Fragen stellenden Jugend, die an der miefig-bürgerlichen, bigotten und taub, aber brutal reagierenden Umwelt der Eltern und Lehrerschaft scheitert. Homoerotische Motive, Masturbation, Verführungsträume, Sex – pfui, das waren als Literatur oder als Bühnenversion unerwünschte Themenfelder. Aber Wedekind setzte sich mit seinem Engagement für die pubertierende Jugend durch. Melchior, der Begabte, und Wendla, das schwärmende Mädchen, kommen sich eines Tages näher – mit Folgen. Wendla wird schwanger. Moritz, der Träumer, fällt bei der entscheidenden Schulprüfung durch, er nimmt sich das Leben. Wendla stirbt nach dem Besuch bei einem „Engelmacher“. Melchior, der als Konsequenz aus den schulischen und privaten Problemen von den Eltern in eine Erziehungsanstalt geschickt wird, kämpft um sein Ich, seine Wahrheit, seine Zukunft. Er nimmt die Schicksalsschläge und die Erinnerungsarbeit schließlich als subtile Zukunftsperspektive an.

Über ein Jahrhundert weiter, hat die Jugend heute andere Sorgen. Handy, PC, Finanzen, Berufsproblematik, Migrationsfragen, Respekt- und Moralverlust, Diätwahn – und die Aufklärung findet an jedem Kiosk, in jeder Zeitschrift, in (fast) jedem TV-Film usw. statt. So sieht die auf sie einstürmende, drängende Wirklichkeit 2013 aus. Nöte gibt es allerdings jede Menge. Nur nicht mehr unbedingt im privaten Verhältnis zum anderen Geschlecht. Oder zur Elterngeneration. Insofern sieht man die Wedekind-Tragödie als historische Entwicklung an, weniger als dramatisch bedingte Aktualität.

Aus dem Schauspiel ein treffsicheres und unterhaltendes Musical zu machen, gleicht einem Drahtseilakt. Das ist dem Duo Steven Sater (Libretto) und Duncan Sheik (Musik) weitgehend gelungen. Die dramaturgische Kurve, von Wedekind vorgegeben, steigt ständig, in Songs (Solo und Gruppe) wird die individuelle Gefühlswelt zwischen Erschütterung und Sehnsucht ausgelotet, der choreographische Bewegungsapparat vermeidet tausendmal gesehene Showeffekte, sondern unterstützt den hier unvermeidlichen Zusammenprall von Jung und Alt durch die Körpersprache. Da gibt es durchaus innovative Szenen und Plots. Schwächen kann man schnell an der eigenwilligen Musik und deren Besetzung (Percussion plus Violine/Cello) ausmachen – man wartet vergeblich auf eingängige Hits. Im Gegenteil: Der ungewöhnliche, ja ruhige, aber die jeweilige Situation durchaus untermalende Sound sperrt sich gegenüber einer populären Hördynamik.

Was jedenfalls funktioniert an diesem zum Schluss lebhaft gefeierten Abend, ist das Miteinander von jungen, teilweise noch studierenden Talenten, dem Routine-Apparat des Musiktheaters im Revier und schließlich erfahrenen Solisten. Im Gedächtnis bleiben die noch nach dem Weg suchenden Jungen haften: Sandra Pangl als Kindfrau Wendla, Julian Culemann als intellektueller Melchior, Angelo Canonico als selbstzweifelnder Moritz. Patricia Martin (musikalische Leitung - Abstimmung zwischen Band und Stimmen hätte besser ausfallen können) und Wolfgang Türks (Regie, manch kleine Ungeschicklichkeit) unternehmen mit dem Ensemble zusammen alles, um Frühlingserwachen nach den eindrucksvollen US-Erfolgen und –Auszeichnungen auch auf einer deutschen Bühne zu einem nachhaltigen „Spezialfall“ im breiten Musicalangebot zu machen. Wenn das Wedekind erahnt hätte, dass sein schwieriges Stück einmal so musikalisch „aufgepeppt“ reüssieren könnte?! Inszenierung und Thema lassen immerhin aufhorchen. Altwerden ist nicht so schwer – Erwachsenwerden dagegen aber sehr: Das ist die gemeinsame, damalige und heutige Aussage von unterschiedlichen Generationen.