Il barbiere di Siviglia im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Intrigen vor dem Scheunentor

Eine Holzfassade, raumfüllend. Fenster, Luken, Türen dieser scheunengroßen Architektur öffnen sich, um Figuren aus der italienischen Commedia dell’ arte auszuspucken. So, als wollte sich keiner mit der (häuslichen, tradierten) Rolle abfinden, die ihnen Gesellschaft und Konvention auferlegt haben. Alle suchen den Freigang, die Abwechslung, die Veränderung, die Sehnsucht, die Fantasie: Das hübsche und charmante Mündel Rosina, hinter der anscheinend ganz Sevilla her ist, der als Student Lindoro verkleidete Graf (später auch Soldat), Doktor Bartolo als herrischer Vormund, der Musikus Basilio und – natürlich an erster Stelle der Macho-Männerparade – Tausendsassa Figaro. Fintenreich setzt sich der Alleskönner und Muster-Barbier durch. Das beginnt in der auf die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zielenden Gelsenkirchener MiR-Inszenierung von Michaela Dicu vor und im Holzverschlag (Vera Koch) hübsch und fantasievoll, frech und unkonventionell. Bis zur Pause - dann driftet der Musikspaß ins Platte, Triviale, Polternde, arg Klischeehafte ab. Schade, denn der Ansatz der Regisseurin scheint durchaus zu taugen, um diesen nach wie vor populären Rossini-Beststeller (nach der grandiosen, aufmüpfigen Komödie von P.A.C. de Beaumarchais) ins Heute zu holen, uns die aberwitzigen Szenen rund um Intrigen und Amouren, Leidenschaft und Groteske, Slapstick und Entlarvung schlüssig und nachvollziehbar zu präsentieren. Wenn es doch nur keine zweite Hälfte gegeben hätte… Die – dennoch in der zweiten Vorstellung gefeierte – Produktion, die filmisch als Erinnerung an schöne Tage in das abstruse Geschehen einsteigt, verliert dann im Tanzsaal mächtig an Schwung, an Frische, an Plaudercharme, an Logik, an Überraschung.

Aber die szenischen und Charakter-Defizite werden wettgemacht durch Prachtstimmen. Das hauseigene Ensemble singt die melosgetränkten Belcanto-Arien des italienischen Maestros, als wären die internationalen Kräfte in Florenz, Mailand oder Neapel groß geworden. So zwingend, natürlich, lebhaft und stilsicher wandeln die teilweise noch sehr jungen Sängerinnen und Sänger des Musiktheaters im Revier in dieser Hommage an das soziale Chaos, in das sich die Männerwelt aus Tollheit stürzt. Das gilt übrigens auch für den vorzüglich aufgelegten, spielerisch inspirierten Chor (bestens einstudiert von Christian Jeub). Auch in diesem Punkt weist Michaela Dicu nach, dass sie für abwechslungsreiche, ja sogar anarchische und damit überrumpelnde Spiellaune sorgen kann.

Eine junge Dame repräsentiert in ihrer Partie Weltklasse: Alfia Kamalova als Rosina. Sie gewinnt alle Herzen – auf der Bühne und im Publikum. Weil sie so geschmackvoll wie abgeklärt die Koloraturen bewältigt, weil sie alle Vorteile ihres Typs einbringt, weil sie der Rosina Lebenssinn und Liebreiz einhaucht, weil sie die ewige Sehnsucht junger Menschen nach Liebe in jedem Moment dieser Einstudierung mit ihrer glitzernden Gesangsfreude unterfüttert, weil sie Leichtigkeit vermittelt. Entwickelt sich die Sopranistin weiter so in ihren stimmlichen Möglichkeiten, wird sie nicht mehr lange an diesem Institut zu halten sein.

Michael Dahmen als tougher Figaro, Joachim Gabriel Maaß als Bartolo (den wievielten „Frühling“ seiner langen Karriere durchsteht er eigentlich wieder einmal), Dong-Won Seo als Verleumder Basilio (seine Gerüchte-Arie ist eine Kostbarkeit an diesem Abend!), Hongjae Lim als lyrisch-heldischer Almaviva, Sun-Myung Kim als Antreiber Fiorillo – sie alle scheinen einfach den doppeldeutigen, ja hintergründigen Jux, den Gioacchino Rossini auf die Stimmbänder und in die Kehlen vor knapp 200 Jahren geschrieben hat, weitgehend zu genießen.

Die Neue Philharmonie Westfalen agiert unter dem Dirigat des jungen Skandinaviers Valtteri Rauhalammi im Graben meist federnd, elegant und prickelnd. Doch es schleichen sich auch einige Rumpel-Sekunden ein. Der finnische Kapellmeister, erst seit einem halben Jahr in Gelsenkirchen, beweist auf jeden Fall Rossini- und Komödien-Kompetenz. Der Wahnsinn der Komik besitzt bei ihm orchestrale Natürlichkeit.