Der Tod hat keine Lust mehr
Man muss es sich immer wieder beim Anhören/-sehen dieser Groteske vorstellen: Viktor Ullmann schrieb seine Oper Der Kaiser von Atlantis (Libretto Peter Kien), ein Werk im wahrsten Sinne des Wortes zwischen Leben und Tod, im KZ Theresienstadt 1942/1943. Die Uraufführung fand jedoch dort nicht mehr statt. Ullmann starb 1944 in Auschwitz. Erst 1975 über Amsterdam fand das Stück doch noch auf die deutsche Bühne. Seitdem ist die Parabel auf Hitler, Goebbels, die SS-Todesmaschinerie, den Pakt mit dem menschlichen Teufel sowie die Sehnsucht nach Frieden und Überleben erfolgreich. Das gilt auch für die jüngste Begegnung: Im Kleinen Haus Gelsenkirchen wurde die Rezeptionsgeschichte um eine weitere Realisation durch Carsten Kirchmeier (Regie) und Dirk Erdelkamp (musikalische Leitung) bereichert. Das war umso erstaunlicher, als es sich um eine Einstudierung des MiR-Jugendorchesters handelte. Man weiß zwar, dass der Komponist gerade den Instrumentalpart so einrichtete, dass auch Laien (im KZ) Aufgaben des Ensembles übernehmen konnten. Dennoch: Die Partitur mit ihren erschütternden Zitaten von Ein feste Burg ist unser Gott, von Mahlers Lied von der Erde, von der Deutschland-Hymne oder vom Volkslied Schlaf, Kindchen, schlaf besitzt Raffinesse, Dichte, Intensität und den entlarvenden Witz des Schreckens. Die neunzehn jugendlichen Orchestermusiker spielten diesen Zeitopern-„Sound“ (mit Erinnerung an Weill, Krenek, Hindemith), als wären sie „alte Hasen“. Bravo für diese bemerkenswerte Einfühlung in diesen besonderen Klang, in dieses besondere Thema. Auch in die musikalische Poesie von Ullmann (Liebeslied der Soldaten, Harlekins „Schlaf“-Song).
Der Tod dankt ab. Er hat keine Lust mehr angesichts des Massenmordens in Europa. Und der Kaiser, längst in seinem Palast einsam und isoliert vom Volk lebend, erkennt erst in der Ich-Begegnung im Spiegel, zu welcher menschlichen Fratze er degeneriert ist. Der Tod will erst wieder als „normaler“ Menschenpartner auftreten, wenn Kaiser Overall als erster den Schritt ins Jenseits übernimmt. Er tritt diesen Todesgang endlich an. Der Tod als Gevatter kann wieder mit seinem Trauerauftrag „leben“…
Ein makabrer, absurder, utopischer, bizarrer, grotesker Totentanz mit bitterer Zeitkritik, die aber zum Glück Kirchmeier nicht als pure NS-Maskerade anlegt. Sein Konzept: Überall, wo Menschen andere Menschen nicht mehr in ihrer Individualität und Nationalkultur respektieren, kommt es zur schrecklichen Katastrophe. Hitler war ein Massenmörder – aber politisch Wahnsinnige gibt es immer wieder. Und überall. Auch heute, das ist die zeitlose Mahnung, die der Regisseur auf der Ramsch-Bühne von Helke Hasse – ein Wachturm wie im KZ, ein Abflussrohr, eine Landschaft mit verdörrtem Baum, ein Palast als Isolationshaft, ein Fenster ohne Öffnung u.a. – zwingend vermittelt.
Gelsenkirchens Solisten, auch in diesem Projekt eine Mischung aus Nachwuchs- und gestandenen Sängern, fügen sich mit den oben genannten Gefühls- und Erlebnisvarianten in Ullmanns furchtbaren „Abgesang“ ein. Anke Sieloff als antreibende Trommlerin, Vasilios Manis als unbegreiflich-greifbarer Kaiser, William Saetre als sich verweigernder Harlekin, Claudius Muth als scheinbar neutraler Lautsprecher/Ansager, Kai Uwe Schöler als bleicher Tod, Tina Stegemann als von der Liebe überrumpelte Soldatin, E. Mark Murphy als Gegenüber-Soldat machen aus der Vorlage mehr als nur eine historisch ablesbare Moritat. Das makabre Antikriegs-Spiel geht unter die Haut – musikalisch (dank Dirk Erdelkamps krassen, aber auch „softigen“ Orchesterkontrasten) und szenisch – vor allem durch die Behutsamkeit, mit der alle Figuren zu Werk gehen. Ullmanns Mahnmal-Opus besitzt große Qualitäten, die weit über den Ort der Entstehung und dessen besondere Umstände hinausweisen.
Was junge Talente zu leisten imstande sind, das wird vom MiR-Projekt nachhaltig unter Beweis gestellt. Es gab im fast ausverkauften Haus mehr als nur freundlichen Beifall für alle Mitwirkenden.