Eine gequälte Seele
Im Grunde ist sie alt, Richard Strauss’ Salome. Und dennoch: so bald das Orchester anhebt, ist man voll im Bann des Stückes. Es nimmt die Zuhörer förmlich gefangen, übt eine ganz und gar unentrinnbare Sogwirkung aus. Vor allem, wenn ein Dirigent sein Orchester dazu motivieren kann, sich ganz auf die Kraft dieser Musik einzulassen. Und das ist Fabrizio Ventura im Theater Münster absolut gelungen. Er hat von seinen Musikern viel gefordert - und Unglaubliches bekommen. Den ganzen Klangkosmos und die Komplexität der Partitur konnten sie perfekt ins Publikum transportieren und jene für die Salome so typische knisternde Atmosphäre erzeugen, die unendlich anspannt, so dass man ein reinigendes Gewitter förmlich herbeisehnt und trotzdem auf gar keinen Fall möchte, dass sich irgendetwas verändert.
Das ist eine tolle Leistung des Sinfonieorchesters Münster und seines Chefs, der, so könnte man meinen, wenig Rücksicht auf die Sänger nimmt und immer wieder neue Höhepunkte herausarbeitet. Aber wo bedarf es Rücksicht, wenn ein Dirigent eine Salome hat wie Annette Seiltgen. Die hat Kraft ohne Ende, verfügt dabei auch über ein Piano, das einem durch Mark und Bein geht, lässt eine wunderbare mezzogestählte Tiefe spüren. Und es macht ihr scheinbar nichts aus, dem Orchester gegenüber auch bis zum Ende noch mühelos standzuhalten: große Klasse!
Auch die anderen Protagonisten brauchen sich nicht zu verstecken: Die kleinen Rollen sind gut besetzt: unter anderem es gibt ein Wiederhören mit Mark Bowman-Hester, der viele Jahre in Münster als Sängerdarsteller geglänzt hat.
Gregor Dalal ist ein durchdringender Jochanaan, dessen Mahnungen vor der Verderbtheit jeden im Publikum erreichen müssen. Youn-Seong Shim schmachtet Salome mit süßen Tönen als Narraboth an und Suzanne McLeod kann als Herodias die ganze Verkommenheit dieser Rolle ebenso perfekt transportieren wie die Sehnsucht der Königin nach Anerkennung und Liebe. Etwas blass bleibt lediglich der Herodes: Adrian Xhema kann ihm stimmlich nur wenig Kontur verleihen, auch übertönt ihn das Orchester das eine und andere Mal.
Dass dieser Premierenabend ein rundum gelungener ist, dazu trägt vor allem Regisseur Georg Köhl einen ganz großen Teil bei. Er analysiert die Salome von kindlichen Erfahrungen der Titelfigur aus: ein Mädchen, dass von seinem Stiefvater missbraucht wurde und im Propheten Jochanaan einen Gegenentwurf für ein schönes Leben zu finden glaubt, aber auch dort immer wieder enttäuscht wird. So tanzt nicht Salome allein den Schleiertanz, sondern wird von zwei Tänzern begleitet – Doubles von Jochanaan und Herodes, die die Zerrissenheit der Figur Salome symbolisieren. Auch wenn Köhl bisweilen zu viel ins Bildhafte gleitet und manchmal sich Dinge nicht gleich erschließen (das Auftauchen der kindlichen Salome ist so ein Beispiel), gelingt Köhl eine durch und durch schlüssige, tiefe Ausdeutung der Titelfigur.
Der vor wenigen Wochen verstorbene Ausstatter Peter Werner schafft einen von geometrischen Elementen begrenzten mediterranen Patio – ein trotz seiner scheinbaren Offenheit und Grenzenlosigkeit unheimlicher Raum –, der überdimensionale Mond in Hintergrund ist ein unübersehbares Menetekel. Werner realisiert auch die eindrücklichsten Bilder dieser Salome: die Badewanne, die einerseits Rückzugsort für Salome ist und in der sie die erlittenen Qualen abwäscht. Konsequent, dass sie am Ende dort von Herodes ertränkt wird. Und des weiteren das wirklich klischeehafte Königskostüm, das Salome ihr Leben lang bedrohlich begleitet hat.
In seiner Gesamtheit war das ein intensiver Opernabend, der vom Publikum geradezu enthusiastisch gefeiert wurde. Die letzte Premiere der ersten Spielzeit unter der Intendanz von Ulrich Peters zeigt, dass es unübersehbar aufwärts geht mit Münsters Musiktheater.