Provokation war gestern
Dietrich Hilsdorf, der Januskopf. Ein Regisseur mal in der Rolle des Dr. Jekyll, dann in Gestalt des Mr. Hyde. Hier Provokateur, Bürgerschreck, auf szenische Knalleffekte gebürstet, dort detailversessener Arbeiter, menschliche Konflikte sezierend, dramatischer Zuspitzung dienend. Vor allem aber ein Theatermann durch und durch – sei es als Berserker, sei es als liebevoller Gestalter. Ohne ihn, seine aufreizenden Verdi-Inszenierungen, wäre die Geschichte der Aalto-Oper in Essen unvollständig erzählt. Hilsdorf gehört gewissermaßen zum Inventar.
Unvergessen ist, um nur eines von vielen Beispielen zu erwähnen, seine üppig-drastische Aida-Deutung. Wo die Triumphmarschszene weniger mit Siegesfreude, weit mehr aber mit Versklavung der Unterlegenen zu tun hat. Wo der Mensch des Menschen Wolf ist, also auch bloß ein Tier. Wo die Liebe zwischen Aida und Radames nicht in schmucker, geheimnisvoller Pyramide endet, sondern in einer Tunnelröhre. Das war 1989 und Hilsdorf musste einen wahren Orkan an Buhrufen überstehen. Doch Aida wurde immer wieder auf den Spielplan gesetzt und genießt heuer Kultstatus.
Was lehrt, dass ein Skandal nicht die schlechteste Werbung für einen Regisseur sein muss. Zumal wenn er es versteht, mit Akribie an der Personenführung zu feilen. Wie jetzt bei Verdis früh(reif)er tragischer Oper I Masnadieri, komprimiert aus Schillers Drama Die Räuber. Es ist Hilsdorfs 19. Inszenierung fürs Aalto und nicht zuletzt ein Spiegel seines Wirkens: in der Zeichnung starker Charaktere wie im Versuch, einen alten Stoff in die Moderne zu transformieren. Diese Räuber sind geldgierige Börsenmakler und keine Idealisten, die den Armen helfen. Dass solcherart Gesellschaft nicht ohne Nutten auskommt, war uns klar. Dass darüberhinaus blankbusige Pussy Riot-Mädchen und Occupy-Masken antikapitalistischen Protest andeuten, entlockt uns ein mildes Lächeln. Ja ja, der Hilsdorf. Und was hätte wohl Robin Hood dazu gesagt?
Nein, wir konzentrieren uns lieber mit dem Regisseur auf den langsamen Verfall einer Familie, geschürt durch Neid, Intrige und Racheschwüre. Konstellationen wie diese wirken bei Hilsdorf oft wie ein Kammerspiel, mögen auch die Räume, die in treuer Verbundenheit Johannes Leiacker baut, noch so groß sein. Wie jetzt wieder in Verdis Räuberdrama, wo wir, zunächst noch von einem Waldprospekt überlagert, eine gewaltige Halle mit Säulen und Treppen gewähren, inmitten ein prunkvoller Schreibtisch – das Reich des Grafen Maximilian von Moor.
Der Mann ist ein Wrack. Seinen Lieblingssohn Carlo hat er wegen dessen angeblicher Aufsässigkeit verbannt. Inzwischen reut das den Alten. Ihn plagen Träume. Sein jüngerer Spross Francesco, ein kalt berechnender Fiesling, will die Macht, das Erbe. Er gaukelt dem Grafen vor, Carlo sei tot. Der Alte wird ohnmächtig ins Verlies gesperrt.
Später werden sich der sieche, umnachtete, aus dem Leben geworfene Graf und sein verstoßener Sohn, nunmehr Anführer einer Räuberbande, ein Zweifelnder an sich selbst, wiedersehen. Inmitten Amalia, Carlos große Liebe, eine traurige, aufbegehrende Leidensgestalt. Wollüstig begehrt von Francesco. Ein Konfliktgemenge von tragischer Tragweite. Zu lösen nur durch Tod, ohne Verklärung.
Hilsdorf bleibt dicht dran am Schicksalsknäuel. Der wuchtige Bühnenraum, im zweiten Teil eben ein Börsenparkett, hat wenig Bedeutung. Der zwiegesichtige Regisseur scheint sich selbst im Weg zu stehen. Wie gut, dass er die Menschen sieht und den ideologischen Ballast (krass ausformuliert im Programmheft) zurücksteckt. Insgesamt ergibt das eine spannende Inszenierung, deren Provokationen verpuffen. Darüber muss sich niemand aufregen.
Zudem sehen wir spielfreudige Darsteller, hören einen stimmgewaltigen Chor, sowie üppigen, transparenten, dunkel verhangenen, dramatischen Orchesterklang. Das Düstere fesselt besonders, weil Aris Argiris sich mit wendigem, stimmgewaltigem Bariton bestens in die Dämonie des Francesco einfindet. Das Lyrische, Leidenschaftliche gewinnt durch Liana Aleksanyan schöne Kontur, wenngleich die Sopranistin die Entäußerung meidet, Spitzentöne unsauber fokussiert.
Entschieden ärgerlich ist, dass Tenor Zurab Zurabishvili (Carlo) teils verkrampft, teils larmoyant und schluchzend, oft dürftig intonierend singt. Marcel Rosca hingegen, Bühnentier und Urgestein des Hauses, kann als bassbewehrter Graf Moor immerhin dramatische Wucht beisteuern, wenn auch mit stets angerautem, leicht dröhnendem Timbre.
Verdis I Masnadieri und Macbeth sind zeitlich ungefähr parallel entstanden. Die Räuber-Vertonung mag dabei weniger auf die psychologisierende Wucht der Musik setzen. Gleichwohl spielen die Essener Philharmoniker unter Srboljub Dinic unter gehöriger Spannung, kosten Stimmungen aus und lassen orchestrale Farben lustvoll aufblühen. Hier ertönt ein Klangereignis von Format – für eine typische, wenn auch altersmilde Hilsdorf-Inszenierung. Anders gesagt: Es siegt nach Punkten Dr. Jekyll.