Macht und Gefühl
Kristine Larissa Funkhauser ist alles andere als ein rassiger, gefühlsbetonter Vamp. Schon ihre blond-brünette Kurzhaarfrisur steht für das Gegenteil – und für die Abkehr vom ewigen Klischee zur ewig rothaarigen Carmen. Funkhausers Carmen weiß Erotik auszuspielen, setzt sie rational ein für ihre Zwecke. Sie verführt Don José nicht aus jener Laune heraus, sie aus dem Gefängnis zu befreien. Nein, bei ihr ist jede Handlung wohlbedacht.
Das ist sie auch zum Beginn des zweiten Aktes. Nur hier münzt Carmen ihre kühle Beherrschung in bare Münze um – als Table-Dancerin im Bordell des Lillas Pastia. Dort fliegen ihr die Geldscheine nur so zu. Und dann kommt die Wende: Als der ebenso selbstsichere wie charismatische Don Escamillo auftaucht, spürt Carmen, dass da ein ihr Ebenbürtiger die Szenerie betritt. Und fortan ist sie fähig zur Liebe und Selbstaufgabe.
In diesem zweiten Akt liegt der Schlüssel zu Anthony Pilavachis ganz wunderbarer Carmen am Theater Hagen. Wie er die Verwandlung Carmens in einen liebenden Menschen schildert, ist ebenso einfühlsam wie grandios. Ihr kurzer Blick zu Escamillo und seinen flugs verteilten Autogrammkarten, das leichte Staunen über sich selbst, das Achselzucken und das sofortige Einstimmen in den Lobgesang auf den Stierkämpfer - ein so fein gezeichnetes Psychogramm der Carmen in diesem und noch so vielen anderen Momenten ist fantastisch.
Bei Pilavachi ist eher Don José ein von Leidenschaften getriebener, schwacher Mensch, der nicht rational sein kann. Alle, die seiner Leidenschaft im Wege stehen, werden umgebracht: Zuniga, Micaela und dann auch Carmen, die nicht mehr der ihr zugedachten Rolle in seinem Leben entspricht.
Pilavachi gelingt eine ganz tolle Inszenierung - vor allem in der Analyse der Titelfigur und Don Josés. Dabei verzichtet der Regisseur auf jegliche Folklore: Wenn der oft so herzig dargestellte Kinderchor in Hagen Schlachtaufstellung nimmt und mit Holzgewehren aufeinander schießt, wird deutlich, welch martialischen Text er singt. Und die Darstellung der Diebesbande als Gruppe von Schleppern wirkt absolut nicht bemüht, sondern passt perfekt.
Peer Palmowski baut ein stimmiges Bühnenbild, das besonders auch im dritten Akt überzeugt, wenn Escamillo von seinen Fans bejubelt wird, während in den Katakomben der Arena Carmen im einem wunderschönen, schlichten Torerokostüm stirbt.
An diesem Abend passt alles. Spielfreudig und gesanglich bestens dabei ist Wolfgang Müller-Salows Chor. Maria Klier und Marilyn Bennett als knallbunte Bordsteinschwalben, Raymond Ayers als Morales, Jeffery Krueger und Richard van Gemert als Menschenschmuggler und Orlando Mason als fieser Zuniga beweisen einmal mehr die große Leistungsfähigkeit des so ausgewogen besetzten Hagener Ensembles. Das gilt auch für Frank Dolphin Wong, lange Jahre fest im Hagener Ensemble, nun als Gast zurückgekehrt. Als Escamillo kann er mit großer vokaler und darstellerischer Selbstverständlichkeit glänzen. Charles Reid singt die Partie des Don José - sein Tenor verfügt über große Strahlkraft und dennoch gelingt es ihm, die ganze Labilität des Charakters deutlich werden zu lassen. Sein Duett mit Micaela ist sicher einer der Höhepunkte des Abends. Jaclyn Bermudez ist eine perfekte Micaela. Wenn sie ihren wunderschönen Sopran zum Aufblühen bringt, ist das einfach berührend. Und Kristine Larissa Funkhausers Carmen hat große Suggestivkraft. Selbst wenn da ein Ton mal nicht richtig anspringt, zieht er einen dennoch in Bann.
Einen großen Tag erlebt das Philharmonische Orchester unter seinem Chef Florian Ludwig. Die Musiker steigern sich in einen wahren Carmen-Rausch hinein und lassen allen Farben und Gefühlen freien Lauf. Das ist ein wirklicher Saisonhöhepunkt. Das spürt auch das Publikum und bricht in einen wirklichen Jubelorkan aus!